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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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Mund gekommen waren. Sie klangen lächerlich.
    Er beugte sich vor und legte warnend einen Finger auf die Lippen. »Ich habe deine Mutter gestern gesehen«, gestand er, dabei schossen seine Augen hin und her, als befürchte er, jemand könne uns belauschen. »Ich habe aus meinem Schlafzimmerfenster geschaut, und da ging sie im Hof spazieren.«
    Ich schwieg einen Moment lang. »Du hast Mom gesehen?«
    Er nickte langsam. »Sie trug das lange violette Kleid, das sie immer so gemocht hat.« Dann lächelte er. »Ich glaube, diesmal kommt sie mich holen, Hallie.«
    Seine Ernsthaftigkeit jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich hielt seine Hand fest und fuhr fort: »Heute habe ich einen Brief von einer Frau bekommen, die behauptet, meine Mutter zu sein.«
    »Madlyn hat dir geschrieben?«
    Ich sog zischend den Atem ein. Er hatte tatsächlich Madlyn gesagt. »Hast du das wirklich getan?«, stieß ich hervor. »Warum, Dad? Warum hast du mich von ihr getrennt?«
    Mein Vater lächelte immer noch, aber jetzt schimmerten Tränen in seinen Augen, als er mir über die Wange strich. »Ich musste doch mein kleines Mädchen retten.«
    »Mich retten? Wovor?«
    Jetzt rollte die erste Träne über sein Gesicht. »Vor diesem Ort, Hallie. Er hätte dich vernichtet.«
    Und das war es. Die Zeit war um, zumindest für heute. Er wandte sein Gesicht, aus dem jegliches Leben wieder gewichen war, abermals den Vögeln zu.
    Ich presste meine Hand gegen seine Wange, als könnte ich so all die Zuneigung, die ich für ihn empfand, in seinen Körper leiten.
    »Und ich dachte, er hätte heute mal wieder einen guten Morgen.« Das kam von der Schwester, die ihm sein Tablett mit dem Mittagessen brachte.
    »Den hatte er auch, Janine, nur …« Meine Worte verklangen in einem langen Seufzen. Schweigend blickte ich zu ihr auf.
    »Ich weiß, Herzchen! Es wird eben nicht leichter, nicht für uns und nicht für sie.«
    Ich umarmte meinen Vater noch einmal fest, bevor ich aufstand, um zu gehen. »Ich liebe dich, Dad«, flüsterte ich in der Hoffnung, er würde mich hören, wo immer er sich auch gerade befand.
    Am nächsten Morgen kam der Anruf.
    »Hat er noch irgendetwas gesagt?«, krächzte ich mühsam. »Hat er nach mir gefragt?«
    »Ich habe während meiner Zeit hier viele Todeskämpfe miterlebt, Herzchen«, antwortete Janine mitfühlend. »Doch wenn es zu Ende geht, schweigen die meisten. Sterben ist nicht leicht.«

3
    Bevor ich meinen Vater verlor, habe ich die ganzen mit einer Beerdigung verbundenen Rituale nie verstanden – die Totenwache, die Messe und den darauf folgenden Empfang, die Speisen, von wohlmeinenden Freunden zubereitet und in Tupperdosen mitgebracht, und schließlich die beliebte Sitte, Fotos des Verstorbenen auf einer Pinnwand auszustellen. Aber jetzt weiß ich, warum wir all diese Dinge tun.
    Alles, was mit einer Beerdigung zusammenhängt, bringt viel Arbeit mit, und das ist oft eine große Hilfe – manchmal sogar die einzige. Ich musste mich um vieles kümmern, etliches in die Wege leiten und unzählige Menschen informieren, sodass mir gar keine Zeit blieb, mich von der Welle des Schmerzes überwältigen zu lassen, die stets schwarz und drohend hinter mir herrollte. Stattdessen watete ich durch das seichte Wasser der Bewältigung der Aufgaben, die vor mir lagen, dankbar dafür, Pflichten zu haben, die mich vorwärtstrieben.
    Dreihundert Menschen, vielleicht sogar mehr, drängten sich am Tag von Dads Beerdigung in unserer kleinen Kirche. Seine Kollegen und viele ehemalige Studenten waren gekommen, ebenso wie meine eigenen Freundinnen mit ihren Männern und Eltern. Frühere Mitschüler, die ich seit meiner Highschoolzeit nicht mehr gesehen hatte, tauchten auf, darunter sämtliche Flötisten der Kapelle, in der ich in der zehnten Klasse musizierend mitmarschiert war, meine Arbeitskollegen von der Zeitung, Restaurantbesitzer, Ladeninhaber und Fischer. Die meisten Geschäfte auf der Hauptstraße blieben an diesem Nachmittag geschlossen, und an deren Türen hingen Schilder: Sind bei der James-Beerdigung . Zweifellos war Dad in der Stadt sehr beliebt gewesen. Die vielen Teilnehmer des Gottesdienstes waren der Beweis dafür. Allein durch ihre Anwesenheit gaben sie mir zu verstehen, was für ein guter Mann mein Vater gewesen war, und im Licht dessen betrachtet, was ich mittlerweile zu wissen glaubte, hatte ich diese Versicherung bitter nötig.
    Nachdem der Gottesdienst zur Hälfte vorüber war, nickte der Pfarrer auffordernd in meine
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