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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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Richtung. Ich stand auf und begab mich in den vorderen Teil der Kirche, um die Trauerrede für meinen Vater zu halten. Meine Füße bewegten sich so quälend langsam, als müsse ich mich durch Treibsand kämpfen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den Altar erreichte, und als ich endlich dort angelangt war, holte ich tief Atem und blickte über das Meer bekümmerter Gesichter von Freunden, Bekannten und Kollegen hinweg. Viele wischten sich verstohlen über die Augen oder schnäuzten sich leise die Nase.
    Ich konnte die Empfindungen förmlich sehen. Trauer hatte sich wie ein schwarzes Leichentuch über den Raum gelegt, aber ich bemerkte auch Erleichterung bei denjeniegen, deren Eltern noch lebendig und gesund waren – sie waren noch nicht an der Reihe, die wichtigsten Bezugspersonen ihres Lebens zu begraben, und hätte dieses Gefühl eine Farbe gehabt, so wäre es wohl reines Weiß gewesen. Einige Leute in den Bänken strahlten Furcht aus, in Form einer dunstigen, fast farblosen Schnur, die sich um ihre Hälse schlang, ihre Blicke zu Boden zog und ihre Hände fesselte. Aber es war der allgegenwärtige Kummer, der mich am stärksten berührte, ein intensiver blauer Nebel, der über die Köpfe, Schöße und Bankreihen der Trauergemeinde hinwegwaberte. All das sah ich, als ich nun vor ihnen stand und fühlte mich seltsam getröstet.
    Ich räusperte mich, während ich die beschriebenen Bögen vor mir durchblätterte, doch als ich den Blick senkte, um mit dem Verlesen der Rede zu beginnen, die ich verfasst hatte, sah ich, dass sich meine Trauer auf das Papier übertragen und die Schriftzeichen in vibrierende, wässrige Symbole verwandelt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu improvisieren.
    »Mein Vater war ein wundervoller Mann«, begann ich. Meine Stimme klang sogar in meinen eigenen Ohren hohl und fremd. War das wirklich ich, die da sprach? Wurde mein Vater wirklich gerade beerdigt? Wie war das bloß geschehen?
    »Ich habe meine Mutter nie gekannt, daher war mein Dad alles, was mir blieb. Die meisten Anwesenden hier werden mir wahrscheinlich zustimmen, wenn ich sage, dass es schon schwierig genug ist, Kinder großzuziehen, wenn zwei Elternteile vorhanden sind, aber meinem Dad ist es fabelhaft gelungen, sowohl Vater als auch Mutter für mich zu sein. Das war das Ziel in seinem Leben, dem er alles andere unterordnete. Er sorgte dafür, dass ich nie etwas entbehren musste, weil ich keine Mom hatte. Er ging sogar mit mir zu den Mutter-Tochter-Picknicks, die meine Schule veranstaltete, was meine Lehrer über alle Maßen amüsierte. Er ging mit mir Wale beobachten, obwohl er das Meer nicht besonders mochte, er ging mit mir Kleider für die Tanzstunde kaufen. Und an kalten Winterabenden kochte er heißen Kakao für mich, und wir saßen zusammen und diskutierten über Gott und die Welt, von den Wundern der Natur über Kleinstadtpolitik bis hin zu den jüngsten Dramen in meinem Leben, wie immer diese auch aussahen.
    Er war immer für mich da, und mit seinem scharfen Mathematikerverstand erklärte er mir stets, dass es auch für die absurdesten Ereignisse eine logische Erklärung geben musste. So schützte er mich vor einer Welt, die manchmal sehr unbarmherzig sein kann, so wie er es auch bei vielen der Studenten getan hat, für deren Betreuung er zuständig war. Bei ihm fühlte ich mich immer sicher und geborgen, so als würde seine bloße Gegenwart ausreichen, um mich vor jedem aufziehenden Sturm zu bewahren.«
    Die letzten Worte trugen mir zustimmendes Nicken und Lächeln von Seiten der Trauergemeinde ein.
    »Und nun ist er uns vorausgegangen, um den Weg für mich und jeden in diesem Raum hier zu bereiten, die wir ihm einst nachfolgen werden. Und wenn es an uns ist zu gehen, wird er bereitstehen, um uns mit heißem Kakao zu begrüßen und uns helfen, einen Sinn in dem unerklärlichen Phänomen des Todes und dem, was danach kommt zu sehen.«
    Mein Blick schweifte über den Raum hinweg, und obwohl es vermutlich nur meine aufsteigenden Tränen waren, die mein optisches Wahrnehmungsvermögen trübten, hätte ich einen Augenblick lang schwören können, meinen Vater lächelnd im hinteren Teil der Kirche stehen zu sehen.
    »Gut gemacht, Mausezahn«, hörte ich ihn mir förmlich ins Ohr flüstern. »Danke für die bewegenden Worte. Ich hab dich lieb.«
    Nachdem der Trauergottesdienst und der anschließende Empfang bei mir zu Hause vorüber waren, meine Freunde die letzten Teller in die Spülmaschine gestellt, das übrig
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