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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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beides gut. Und danach setzen wir uns zusammen und denken an deinen Vater zurück.«
    Später, nachdem uns die Erinnerungen an meinen Dad sowohl zum Lachen als auch zum Weinen gebracht hatten, reichte ich Richard den Umschlag, der mein ganzes Leben vor ein paar Tagen aus den Fugen geraten lassen hatte.
    »Ich habe bislang noch mit niemandem darüber gesprochen.« Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl herum und betrachtete ihn verstohlen, als er begann, den Brief von Madlyn Crane zu lesen.
    Er blickte auf und sah mich mit großen Augen an. »Meine Güte! Stimmt das etwa?«
    Ich nickte achselzuckend. »Ich fragte Dad einen Tag vor seinem Tod danach. Ich erzählte ihm, ich hätte einen Brief von einer Frau bekommen, die behaupten würde, meine Mutter zu sein, und er nannte ihren Namen von ganz allein. ›Madlyn hat dir geschrieben?‹, sagte er zu mir. Mehr Bestätigung brauchte ich nicht.«
    Richard nahm meine Hände und hielt sie fest. »Aber warum?« Er forschte in meinem Gesicht nach Antworten, die ich ihm nicht geben konnte. »Warum zum Teufel sollte er so etwas tun? Ich kannte deinen Dad. Er würde nie …«
    »Ich habe keine Ahnung!«, unterbrach ich ihn. »Er sagte etwas davon, dass er mich hatte retten müssen. Mehr weiß ich auch nicht.«
    Richard stieß einen Seufzer aus, lehnte sich zurück und starrte den Brief an, als wolle er die Worte Kraft seines Willens zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben. »Ich kann nicht glauben, dass Madlyn Crane deine Mutter ist«, murmelte er. »Ausgerechnet sie …«
    Ich blinzelte ihn an, als ich mir einen Stuhl heranzog und mich gleichfalls setzte. »Das klingt ja, als würdest du sie kennen!«
    »Nun, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich kenne sie. Du übrigens auch. Eines ihrer Bücher liegt meist auf meinem Couchtisch. Du hast es Hunderte von Malen gesehen.«
    Ein Bild flammte vor meinem geistigen Auge auf. Richard und ich sitzen mit Teetassen in der Hand in unserer Wohnung und blättern in einem Buch mit Fotos von London …
    »Wo ist dein Computer?«, fragte er plötzlich.
    Ich deutete die Treppe hinauf.
    Er sprang auf. Einen Moment später war er wieder da, stellte meinen Laptop neben mich auf den Tisch und tippte ihren Namen in eine Suchmaschine ein.
    Ich sah zu, wie Seite um Seite mit Treffern auf dem Bildschirm erschien. National Geographic, Vanity Fair, Vogue und viele andere mehr. Alle hatten ihre Werke veröffentlicht. Madlyn Crane war eine berühmte Fotografin gewesen.
    »Ruf doch mal ihre Website auf«, schlug ich vor und hielt den Atem an, als sie sich lud.
    Eine Liste von Rubriken erschien auf der linken Seite des Bildschirms: Landschaft, Tiere, Portraits. Richard klickte sie nacheinander an. Wir fanden Fotos von Berühmtheiten im Festtagsstaat oder ohne einen Faden am Leib, Menschen in Cafés oder an Straßenecken, spielenden Kindern in fremden Ländern. Und die ganze Zeit konnte ich den Blick nicht von den Aufnahmen abwenden, weil ich irgendwie hinter die Fassade der abgelichteten Menschen zu schauen vermochte. Es kam mir vor, als wären ihre geheimsten Gedanken ebenfalls fotografisch eingefangen worden. Auch wenn es absurd klingt – ich meinte zu hören, wie sie mir etwas zuflüsterten.
    Hinter den Augen eines berühmten Filmstars sah ich beispielsweise eine bevorstehende Scheidung und lähmende Versagensangst. Auf dem nächsten Foto lauerte tief in der Speiseröhre eines Mannes der Krebs. Ich konnte nicht erklären, wieso mir ein bloßer Blick auf diese eindimensionalen Portraits all diese Dinge verriet, aber ich war sicher, dass meine Vermutungen stimmten. Mir war, als wäre ich hypnotisiert worden, als könne ich jeden Moment in die Welt hineingezogen werden, die Madlyn Crane mit ihrer Kamera festgehalten hatte.
    Und dann stießen wir auf etwas, das bewirkte, dass sich wirklich ein Kloß in meinem Hals bildete.
    Richard klickte eine mit ›Liebe‹ betitelte Rubrik an, die nur ein einziges Foto enthielt – die Schwarzweißaufnahme eines Kindes. Es sprang gerade von einer Schaukel, die an dem Ast einer mächtigen Eiche befestigt war. Die Fotografin hatte genau den richtigen Moment eingefangen: den Flug des kleinen Mädchens durch die Luft, nur kurz bevor ihre Füße den Boden berührten. Es blickte genau in die Kamera, offenbar wusste es, dass es fotografiert wurde, und sein breites Lächeln strahlte pure Lebensfreude aus.
    Doch hinter den funkelnden Augen und dem ausgelassenen Lächeln spürte ich noch etwas anderes. Das kleine Mädchen
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