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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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überlegst, was von all dem Zeug zu halten ist – von einem Brief einer Fremden, die behauptet, deine Mutter zu sein. Und ich bin sicher, es widerspricht allem, was du während der letzten dreißig Jahre geglaubt hast. Es tut mir leid, einen solchen Gefühlsaufruhr in dir auslösen zu müssen, und glaube mir, dass ich durchaus erwogen habe, ›tot‹ zu bleiben, um dir diesen Seelenzwist zu ersparen. Schließlich bin ich dann aber zu dem Schluss gelangt, dass die Wahrheit, so schmerzlich sie auch sein mag, ans Licht kommen muss.
    Als Beweis für meine Worte lege ich ein Foto bei und bitte dich, es genau anzuschauen. Es zeigt dich und deinen Vater ein paar Tage vor deinem vermeintlichen Tod. Ich habe es selbst aufgenommen.
    Und ich biete dir noch etwas an: eine Einladung. Komm nach Grand Manitou Island zurück. Es ist schon so viel Zeit sinnlos vergeudet worden.
    In Liebe,
    deine Mom Madlyn Crane
    Das Foto flatterte heraus, als ich den Brief zu Boden fallen ließ. Es war eine kleine, quadratische Schwarzweißaufnahme mit weißem Rand. Darauf sah ich ein kleines Mädchen mit einem eigentümlichen Glanz in den Augen. War ich das? Es sah mir eindeutig ähnlich, aber sicher konnte ich mir nicht sein. Es hätte sich um jedes x-beliebige dunkelhaarige Mädchen handeln können.
    Doch meinen Vater erkannte ich sofort: jünger, schlanker, volleres Haar, aber unzweifelhaft er. Das war der Mann, der mich zu Bett gebracht, meine Tränen getrocknet und mich zum Eislaufen mitgenommen hatte.
    Ich hob den Brief auf und las die Worte wieder und wieder, bis sie zu bedeutungslosen Symbolen verschwammen. Die Worte eines Geistes.

2
    Von meinem Haus aus dauerte die Fahrt normalerweise zwölf Minuten. An diesem Tag legte ich die Strecke in sechs zurück. Ein Meer von Fragen und Anklagen wirbelte in meinem Kopf umher.
    Der Name meiner Mutter lautete Annie James, und sie war bei einem Brand gestorben, als ich noch ein Kind war – das hatte mir mein Vater jedenfalls erzählt.
    Er trug mich damals aus unserem brennenden Haus und lief zurück, um zu versuchen, auch sie zu retten, aber es war zu spät. Bevor die Feuerwehr eintraf, stand das Haus schon lichterloh in Flammen. Deswegen gab es auch nie Fotos von meiner Mutter; keine Dokumente, keine greifbaren Erinnerungen an unser Leben als Familie. Mein Vater wurde nach seinem Einsatz als Held gefeiert, hatte sich aber mit Sicherheit nicht wie einer gefühlt.
    Annie James hatte keine Familie gehabt, erzählte er mir später. Keine Großeltern, Tanten, Onkel oder Cousins. Von seiner Seite aus gab es gleichfalls keine noch lebenden Verwandten mehr, also waren wir allein auf der Welt – nur er und ich.
    Sogar als Kind erkannte ich mit mehr als nur ein paar bohrenden Zweifeln schon, dass die Geschichte des Todes meiner Mutter ein wenig zu stimmig war, denn sie wies keine Widersprüche auf, bei denen ein kleines Mädchen mit Fragen hätte einhaken können. Wenn ich meinen Dad nach ihr fragte – »Wie war Mom so? Hatte sie dieselbe Haarfarbe wie ich?« –, konnte ich seinen Schmerz geradezu greifbar spüren.
    »Stell bitte keine Fragen, Hallie. Grübele nicht andauernd über sie nach. Sie ist tot.«
    Während ich rücksichtslos gelbe Ampeln überfuhr, verwandelten sich meine Fragen in eine Mischung aus Zorn und Trotz.
    Im Laufe der Jahre hatte ich mir im Geist ein fest umrissenes Bild meiner Mutter geschaffen: brünett, braune Augen, mittelgroß, mit einer ähnlichen Ausstrahlung wie Jackie Kennedy. Sie liebte die bunten Hosenanzüge, die in den siebziger Jahren so modern gewesen waren, aber zu wichtigen Ereignissen kleideten wir uns gleich. Sie war freundlich, aber bestimmt, liebevoll und verspielt, anmutig und elegant. Wenn in diesem Brief die Wahrheit stand – was einfach nicht möglich war –, würde das mein Bild der einzigen Mutter auslöschen, die ich je gekannt hatte. Und ich würde nicht zulassen, dass eine Fremde sie mit Papier und Tinte noch einmal tötete.
    Ganz zu schweigen davon, dass Madlyn Crane, wenn der Brief der Wahrheit entsprach, meinen Vater eines furchtbaren Verbrechens bezichtigte. Ich liebte meinen Dad mit dem ganzen ausgeprägten Beschützerinstinkt, der Kindern zu eigen ist, die mit nur einem Elternteil aufwachsen. Wie konnte diese Frau, diese Fremde, es wagen, einfach so in mein Leben zu treten und meinen Vater als Lügner zu bezeichnen? Sie beschuldigte ihn, unseren Tod vorgetäuscht und mich quer durch das Land verschleppt zu haben. Im Grunde genommen
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