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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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behauptete sie ja, ich wäre ein entführtes Kind, jemand, dessen Foto auf einem Fahndungsplakat hätte prangen können. Wie kam sie bloß dazu?!
    Männer wie mein Dad waren doch keine Kidnapper und nahmen mal eben eine neue Identität an! Männer wie mein Vater, der Mathematiker war, suchten nach rationalen Lösungen für ihre Probleme. Die ganze Angelegenheit war absurd und empörend, und ich konnte mir nicht vorstellen, was diese Frau dazu bewogen hatte, so einen Haufen grausamer Lügen zu erfinden.
    Aber war es nicht tatsächlich etwas seltsam, dass so gar keine Fotos von meiner Mutter mehr existierten? Keine Verwandten? Keine Freunde, die etwas über ihr Leben wussten? Was, wenn es gar kein Schmerz gewesen war, den ich damals in den Augen meines Vaters gelesen hatte, sondern Furcht? Was, wenn er dreißig Jahre lang in der Angst gelebt hatte, jeder Tag könnte der Tag sein, an dem seine Frau, meine Mutter, plötzlich vor unserer Tür stand? Das würde zumindest erklären, warum er sich immer so beharrlich geweigert hatte, von ihr zu sprechen.
    Seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz deutlich an den Brand. Ich kann heute noch die Flammen und den Rauch sehen, die Schreie und das Dröhnen der Motoren der Feuerwehrwagen hören, das Wasser aus den Schläuchen auf meiner Haut spüren. Jetzt fragte ich mich natürlich, ob dies nur der Schatten von etwas war, was sich nie wirklich ereignet hatte, eine Erinnerung, die sich nur durch eine Geschichte, die man mir jahrelang wieder und wieder erzählt hatte, in mein Gedächtnis einbrannte.
    Janine, die Tagesschwester, blickte auf, als ich eintrat. Angesichts meines Gesichtsausdrucks erstarb ihr freundliches Lächeln. »Was ist passiert?«, fragte sie, doch ich schnitt ihr mit erhobener Hand das Wort ab. Dann ging ich am Schwesternzimmer vorbei in den Aufenthaltsraum, in dem ich erfahrungsgemäß meinen Vater vorfinden würde.
    Er saß wieder an dem einen Platz am Fenster, wo er den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Dad liebte es, die Vögel am Futterhäuschen zu beobachten. Ihr munteres Geflatter faszinierte ihn – oder vielleicht schlugen ihn auch nur die durch die Luft schwirrenden Farbflecke in ihren Bann. Das ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Ich zog mir einen Stuhl heran und nahm seine Hände in die meinen.
    »Dad«, sagte ich sanft. »Dad, ich bin es, Hallie.«
    Er wandte behutsam den Kopf. Seine langsamen, bedächtigen Bewegungen erinnerten mich an einen Fötus im Mutterleib, der in seiner undurchlässigen Atmosphäre schwebt und dort den Zeitpunkt abwartet, an dem er in eine andere Welt gelangt. In seinen Augen lag ein unschuldiger und zugleich verwirrter Ausdruck, als er mich ansah.
    »Bringen Sie mir mein Mittagessen?«
    Meine widersprüchlichen Gefühle wichen dem Kummer, der mich immer überkam, wenn ich meinen Vater in der letzten Zeit besuchte. Dieser große Mann und Denker – auf eine leere Hülle reduziert. Unerträglich. Ich lächelte ihn traurig an. »Janine bringt dir bald dein Mittagessen, Dad.«
    Was tat ich eigentlich hier? Ich wollte Antworten, die er mir eindeutig nicht zu geben imstande war. Seufzend drückte ich seine Hände. Liebe und ein überwältigendes Gefühl von Verlust schnürten mir gleichermaßen die Kehle zu.
    »Hallie?«, riss mich die Stimme meines Vaters aus meinen trüben Gedanken. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht.
    Also war es doch einer jener Tage, auf die ich gehofft hatte! Die meiste Zeit erkannte mein Vater mich nämlich nicht, seine Augen blickten ausdruckslos, seine Lebensfreude war erloschen. Mir kam es dann immer so vor, als hätte sich sein Geist tief in seinen Körper zurückgezogen, um eine darin verborgene Welt zu erforschen. Aber ebenso oft hatte er auch klare Momente, und seine Augen füllten sich mit Anteilnahme, wenn er begann, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen. Dann pflegte er mich zu erkennen und lächelnd zu sagen: »Na, kommst du deinen alten Vater auch mal wieder besuchen?« Und dann konnten wir ein Gespräch führen, wenn auch nur ein kurzes, bevor er sich wieder in sich selbst zurückzog. Die Ärzte hatten mir gesagt, ein solches Verhalten sei typisch für Alzheimerpatienten.
    »Dad, heute bin ich gekommen, um dich nach Mom zu fragen.«
    »Nach deiner Mutter?« Er runzelte verwirrt die Stirn.
    Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb, also kam ich direkt zur Sache. »Hast du mich damals mit Absicht von ihr ferngehalten, Dad?« Ich konnte kaum glauben, dass diese Worte tatsächlich aus meinem
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