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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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gebliebene Essen im Kühlschrank verstaut hatten und gegangen waren, klopfte es an der Tür. Ich brauchte sie nicht zu öffnen, um zu wissen, wer draußen stand.
    Er sah genauso aus wie bei unserer letzten Begegnung: schwarzer Mantel, leicht zerzaustes Haar und elektrisierende blaue Augen. Und er roch nach Salzluft, Erinnerung, Schmerz und Verzeihen. Wir schwiegen beide einen Moment lang, und dann warf ich mich in seine Arme.
    »Gott, es tut mir ja so leid, Hallie«, flüsterte mein Exmann in mein Haar. »Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.«
    Und dann endlich kamen mir die Tränen. Ich begann in Richard Blakes Armen bitterlich zu schluchzen, weinte um meinen Vater und ein kleines Mädchen, das innerhalb weniger Tage den einzigen Elternteil verloren hatte, den es je gekannt hatte.
    Die überwältigende Trauer, die der Tod meines Dads in mir ausgelöst hatte, vermischte sich allerdings auch mit Verwirrung und Zorn – ich hatte schließlich auch mein ganzes Leben lang um meine Mutter getrauert, die ja scheinbar »die ganze Zeit lang da gewesen war«, was immer das auch heißen mochte. Und das alles wegen des Mannes, dessen Tod nun eine gähnende Leere in mir hinterlassen hatte.
    Richard führte mich ins Haus. Ich zitterte am ganzen Körper, so sehr wurde ich von Schmerzwellen geschüttelt.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so dagelegen habe, den Kopf in seinen Schoß gebettet, während er mir über das Haar strich.
    Als ich mir endlich die Augen trocknete, öffnete er eine Flasche Wein für uns. »Ich glaube, das kannst du jetzt brauchen.« Mit einem traurigen Lächeln reichte er mir ein Glas.
    Sein Akzent erinnerte mich an unsere gemeinsamen Jahre in London. Wie lange das her war – sie schienen einem anderen Leben anzugehören.
    Kalter, würziger Chardonnay rann meine Kehle hinunter. »Dass du diese lange Reise auf dich genommen hast … Ich kann es kaum glauben.«
    »Natürlich bin ich gekommen«, sagte er weich. »Wo sollte ich denn sonst sein?«
    Mir fielen auf Anhieb tausend andere Orte ein, aber der Platz an meiner Seite gehörte nicht dazu. »Du hättest ja auch einfach nur eine Beileidskarte schicken können«, meinte ich etwas lahm und nahm seine Hand.
    Er drückte sie sacht. »Als ob ich mir die Gelegenheit entgehen lassen würde, von einer verregneten, trübseligen Stadt in die nächste zu reisen!«
    Plötzlich fehlte mir sein schalkhafter Sinn für Humor in meinem Leben – scheinbar betrauerte ich gerade jeden noch so kleinen Verlust, den ich erlitten hatte.
    »Ist Ethan auch mit dabei?«
    Die Frage bezog sich auf Richards Ehemann. Der Mann, der die Liebe meines Lebens gewesen war, hatte die große Liebe seines Lebens geheiratet, sowie dies in London gestattet worden war. Ich selbst hatte an der Zeremonie nicht teilgenommen, obwohl mich die beiden eingeladen hatten, sondern nur ein Gedeck ihres chinesischen Porzellanservices geschickt. Was hätte ich auch sonst tun können? Der Kampf war für mich schon verloren gewesen, bevor mir klar geworden war, dass ich ihn nie hätte gewinnen können.
    Richard nickte. »Er hat Freunde in Seattle, bei denen er wohnt. Ich habe mir einen absolut grässlichen Leihwagen gemietet und bin allein hierhergefahren. Ich dachte, es wäre dir lieber so …«
    Er brachte den Satz nicht zu Ende, aber er hatte recht. Ich war tatsächlich froh, dass er Ethan nicht mitgebracht hatte, aber ich wollte auf dieses Thema nicht näher eingehen. Nicht jetzt. Stattdessen grinste ich ihn an. »Du bist gefahren ? In Amerika?«
    »Abgesehen davon, dass sich hier alle auf der falschen Straßenseite aufhalten, ging es ganz gut«, erwiderte er, seufzte und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Wir versuchten beide, die Stimmung aufzulockern, aber es wollte uns nicht recht gelingen. »Aber mal im Ernst … ich habe die Trauerfeier verpasst, nicht wahr? Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich hab sowieso nur die Hälfte mitgekriegt. Die letzten Tage waren wie ein böser Traum. Aber ich bin froh, dass du jetzt hier bist! Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte, nachdem alles vorbei, alle gegangen und ich alleine war.«
    »Du bist nicht allein«, versicherte er mir sanft. »Kein Meer zu weit, sagt man nicht so?«
    Ich sah ihn lange an, und ich glaube, wir beide dachten in diesem Moment daran, wie sehr wir uns einst geliebt hatten, bis ich das Schweigen brach.
    »Noch etwas Wein? Und dann Abendessen?«
    »Klingt
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