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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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der Großen Seen?«
    »So ungefähr.« Er grinste, dann deutete er aus dem Fenster. »Sehen Sie, da kommt schon die Stadt in Sicht.«
    Wir tuckerten langsam an der Küstenlinie entlang. Obwohl ich Fotos gesehen und in einem Reiseführer darüber gelesen hatte, war ich nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich mir jetzt bot. Riesige Häuser aus der viktorianischen Ära mit großen Veranden und turmverzierten Dächern säumten eine hohe Klippe, die sich über einem felsigen Strand erhob. Jedes Haus war prächtiger als das vorherige, jede Terrasse größer, jeder Vorgarten gepflegter.
    »Reiche Leute aus Chicago, Detroit und Minneapolis haben damals diese Schuppen gebaut, um sie als Ferienhäuser zu nutzen«, erklärte mir der Kapitän, der sich offensichtlich gern als Fremdenführer betätigte. Ich hatte das Gefühl, dass er diese Informationen schon oft an den Mann gebracht hatte. »Sie sind wegen der sauberen Luft und den kühlen Sommern hierhergekommen.«
    Ich konnte mir nicht vorstellen, so viel Geld zu besitzen, um mir ein derartiges Anwesen leisten zu können, geschweige denn, dieses dann als bloße Sommerresidenz zu nutzen. »Sind diese Häuser jetzt in Pensionen und Hotels umgewandelt worden?«, erkundigte ich mich neugierig. William Archer hatte mich in einem der Inselgasthäuser einquartiert – vielleicht war es ja eins von denen, die ich gerade so bewunderte.
    »Einige ja«, nickte er. »Aber viele befinden sich auch noch in Privatbesitz.«
    Wenig später übernahm er das Steuer und lenkte die Fähre in das Hafenbecken, und ich griff nach meinen Taschen, neugierig, endlich die Welt meiner Mutter in Augenschein zu nehmen.
    »Holt Will Sie ab, oder brauchen Sie eine Fahrgelegenheit?«, wollte der Kapitän wissen. »Ich kann Ihnen ein Taxi bestellen, bevor ich wieder ablege.«
    »Danke für das Angebot, aber Mr. Archer schickt mir einen Wagen«, rief ich über meine Schulter hinweg und zerrte meine Taschen auf den Kai, während sich die Fährbesatzung beeilte, eine Anzahl von Kisten und Kartons auszuladen. Ich bemerkte ein paar Leute, die mit vor Karren gespannten Pferden darauf warteten, die Lebensmittel, die Post und andere Dinge in Empfang zu nehmen zu können, die die Fähre brachte. Das kam mir ziemlich altertümlich vor – Pferde? Dann fiel es mir wieder ein: Ich hatte in meinem Reiseführer gelesen, dass auf Grand Manitou außer einem Krankenwagen und einem Feuerwehrwagen für Notfälle keine weiteren Motorfahrzeuge gestattet waren. Touristen ließen ihre Autos auf dem Parkplatz auf dem Festland zurück und bewegten sich auf der Insel entweder mit dem Fahrrad, zu Fuß oder eben mit den Kutschen, die hier auch als Taxis dienten. Und die Einheimischen taten dasselbe. Sogar die Polizisten sah man anscheinend zumeist hoch zu Ross.
    Dunkle Wolken hingen tief am grauen Novemberhimmel, und der Wind pfiff mir um die Ohren, also knöpfte ich meine Jacke bis zum Hals zu, um die Kälte abzuhalten. Eine beunruhigende Leere umgab mich. Abgesehen von den Männern am Kai war keine Menschenseele zu sehen. Ich blickte über die Hauptstraße hinweg. Kein Laut war zu hören: keine Motorengeräusche, keine dröhnenden Autoradios, kein Stimmengewirr. Ich vernahm nur das Rauschen des Windes, und da ich an Großstadtlärm gewöhnt war, erschien mir die Stille hier geradezu gespenstisch.
    Dies war also die Stadt, in der ich geboren worden war und in der ich bis zu meinem fünften Lebensjahr gelebt hatte, und doch kam mir nichts bekannt oder vertraut vor. Beide Straßenseiten waren von Gebäuden gesäumt; einige von ihnen waren aus bunt gestrichenem Holz gebaut, andere aus roten Ziegeln, und keines war höher als zwei Stockwerke. Ein leicht erhöhter hölzerner Bürgersteig verlief vor den Häusern entlang. Fröhliche farbenfrohe Schilder schwangen im Wind leicht hin und her und warben für Geschäfte, die vermutlich für diese Saison schon geschlossen worden waren – einen Süßwarenladen, eine Eisdiele, eine Bäckerei. Alles wirkte so sauber und ordentlich wie eine Filmkulisse. Auf der Straße lag kein Abfall herum, von den Wänden der Gebäude blätterte keine Farbe ab, nichts war verwittert oder ausgeblichen – das Ganze glich einer zum Leben erwachten Hauptstraße in Disneyland: idyllisch, malerisch, perfekt inszeniert.
    Hinter mir hörte ich leise Hufschläge, die sich mir rasch näherten. Als ich mich umdrehte, sah ich eine Kutsche auf mich zurollen, aber keine von den offenen Touristenattraktionen, die
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