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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten
Autoren: Wendy Webb
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unangenehm sein. Was auch immer die Gründe deines Vaters gewesen sein mögen – erfreulicher Natur waren sie sicher nicht.«
    Ich seufzte. »Ich weiß, aber wenigstens kenne ich dann die Wahrheit.«
    Meine Worte klangen überzeugend genug, aber ein leises Ziehen in der Magengegend verriet mir, dass ich mir gar nicht so sicher war, das Richtige zu tun. Als ich meinen Kaffee umrührte, meinte ich zu sehen, wie sich milchfarbene Sturmwolken in der Tasse zusammenballten.

4
    Nach einem anstrengenden Reisetag – einer zweistündigen Fahrt mit Richard zum Flughafen von Seattle, dem langen Flug nach Minneapolis, der Albtraumfahrt in einer Klapperkiste von Auto nach St. Barnabas, einer kleinen Stadt am Ufer des Sees, und schließlich der Etappe mit dem Taxi zum Hafen – erreichte ich die Fähre gerade noch rechtzeitig. Sowie diese abgelegt hatte, stolperte ich auf Deck hinaus, um die Luft der Großen Seen einzuatmen, aber die eisige Gischt, die meine Wangen bespritzte, ließ mich diese Idee sofort bereuen. Ich klammerte mich an der Reling fest, als das Schiff von einer Seite zur anderen schwankte. Während ich mich langsam zur Fahrgastkabine zurückkämpfte, fiel mein Blick auf etwas in der Ferne.
    Vor mir erstreckte sich die weite Fläche offenen Wassers, aber als die Fähre eine Kurve beschrieb, tauchte die Insel plötzlich wie aus dem Nichts auf und schien sich aus den Tiefen des Sees zu erheben. Das Eiland sah aus wie eine riesige Schildkröte, die die Nase über die Wasseroberfläche reckt, gefolgt von dem gewölbten Panzer. Bei diesem Anblick erwachten irgendwo im hintersten Winkel meines Gehirns ein paar graue Zellen, die jahrzehntelang geschlafen hatten, zu neuem Leben. Ich hatte diese Insel schon einmal gesehen, war schon hier gewesen! Aber die vollständige Erinnerung daran wollte nicht zurückkehren. Sie schien knapp außerhalb meiner Reichweite vor mir wie eine Karotte vor einem hungrigen Pferd zu hängen und ließ mich nicht zur Ruhe kommen.
    »Entschldigen Sie«, erklang eine Stimme hinter mir.
    Als ich mich umdrehte, entdeckte ich einen Mann in Uniform, dessen graues Haar vom Wind zerzaust wurde. Sein Gesicht war wettergegerbt, aber seine Augen blickten freundlich. »Warum kommen Sie nicht mit auf die Kapitänsbrücke hoch? Die Aussicht ist von dort aus genauso schön, und Sie würden nicht so frieren.«
    Das hörte sich durchaus verlockend an, fand ich und folgte ihm rasch.
    »Zu dieser Jahreszeit kommen kaum Touristen hierher«, begann er ein Gespräch, als er mich in die enge Kabine führte und mich dabei für meinen Geschmack entschieden zu lange und zu eindringlich musterte.
    Ich zog meine Handtasche auf meinen Schoß und schlang die Arme darum, nachdem ich auf einem der hohen Stühle Platz genommen hatte. »Ich bin eigentlich keine Touristin«, erwiderte ich zögernd.
    Er wartete stumm darauf, dass ich fortfuhr.
    »Ich suche einen Anwalt namens William Archer in einer juristischen Angelegenheit auf«, gab ich schließlich zu.
    »Archer, soso. Ein gescheiter Mann.«
    Der Kapitän strich sich über seinen Bart und bedachte mich erneut mit einem durchbohrenden Blick, was Unbehagen in mir auslöste. Wenn ich eines nicht wollte, dann war es, als einzige Frau auf einer Fähre auf dem offenen Wasser zum Gegenstand männlichen Interesses zu werden. Der Mann machte ja einen recht umgänglichen Eindruck, aber ich kannte ihn ja schließlich überhaupt nicht.
    »Sie wissen, dass ich erst nächsten Freitag wieder nach Grand Manitou komme?«, vergewisserte er sich.
    Ich nickte. »So lange wollte ich mindestens bleiben.«
    »Sind Sie zum ersten Mal auf der Insel?«, fragte er, während er über das Wasser hinwegblickte.
    »Nein.« Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. »Ich war als Kind schon einmal dort, aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Darum brenne ich darauf, alles wiederzusehen.«
    Endlich lächelte er wieder. »Ein schönes Fleckchen Erde. Schade, dass Sie nicht im Sommer gekommen sind, als alles geblüht hat. Im Frühling und Sommer strömen die Touristen geradezu nach Grand Manitou, aber nach Halloween ist nicht mehr viel los. Wissen Sie übrigens, warum die Insel Grand Manitou heißt?«
    »Das muss ein indianisches Wort sein, richtig?«
    Der Kapitän nickte. »Es bedeutet ›Großer Geist‹. Die Einheimischen haben früher geglaubt, dass der Große Geist, der Schöpfer der Erde und der Menschen, dort gelebt hat. Dass die Insel das Tor zu seiner Welt war.«
    »So etwas wie der Olymp
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