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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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versteckt hatte oder nicht.
    Es war ein feuchter, sonnenloser Morgen und Lloyd vergrub die Fäuste in den Taschen seiner Jacke. Der Fremde blieb nur kurz an der nächsten Kreuzung stehen und schlug dann den Weg Richtung Stadtpark ein. Lloyd beschleunigte seine Schritte. Es war ihm weitaus lieber, die Begegnung mit dem Mann in seinem Wohnviertel stattfinden zu lassen als irgendwo im Park, der im Winter nicht gerade belebt war. Doch ebenso wie er selbst ging auch der Mann jetzt schneller. Bevor Lloyd ihn erreicht hatte, überquerte er die vierspurige Straße, die an denStadtpark grenzte, und verschwand zwischen den Büschen.
    Lloyd stach die kalte Morgenluft in die Lunge, als er über die Straße rannte. Vor ihm zwängte sich ein schmaler, selten benutzter Weg durch die dunkelgrünen Rhododendren. Im Sommer wurde man hier von zwei Meter hohen Wänden aus weißen und roten Blüten umschlossen. Lloyd zog die Schultern hoch. Er hatte das Haus nur in einer dünnen Baumwolljacke verlassen und spürte jetzt die Kälte, obwohl er vor Aufregung schwitzte. Der Mann vor ihm wurde langsamer, sein Gang war unsicher, fast schwankend. War er betrunken? Schließlich blieb er stehen. Er hob die Hände zum Mund, beugte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an, wobei er Lloyd den gekrümmten Rücken zuwandte.
    Der Kies knirschte unter Lloyds Sohlen. Bis auf wenige Meter hatte er den Mann jetzt erreicht, er roch bereits den Rauch des Tabaks. Gleich würde er ihn ansprechen müssen, ohne dass er eine Vorstellung davon hatte, was er eigentlich sagen sollte. Plötzlich drehte der Mann sich um. Lloyds Anblick traf ihn so unverhofft, dass er keine Zeit hatte, sich zu verstellen. Lloyd schlug eine Welle aus Hass entgegen, die ihn wie ein Hieb traf. Der Kaffee, den er auf nüchternen Magen getrunken hatte, stieg säuerlich in ihm hoch. Er ließ die Brötchentüte fallen. Reflexartig bückte er sich, um sie wieder aufzuheben, vielleicht nur, weil sein Sinn für Ordnung, dafür, wie das Leben sein sollte, durch diesen Eindringling aus den Fugen gehoben worden war.
    Im selben Moment stürzte sich der Mann auf Lloyd. Ersprang ihm in die Seite, warf ihn um und wurde von dem eigenen Schwung zu Boden gerissen. Einen Herzschlag lang war Lloyd benommen, dann schoss ihm das pure Adrenalin durch den Körper. Die Anspannung der letzten halben Stunde schlug in zügellose Wut um. Sekundenschnell war er wieder auf den Füßen, nur um sich sofort wieder auf seinen Feind zu stürzen. Seit der Kindheit war er jeder Schlägerei aus dem Weg gegangen, oft für den Preis, als Memme zu gelten. Aber jetzt drosch er auf den Mann am Boden ein, als hätte er auf diesen Moment gewartet. Blind schlug er zu, um ihn zum Schweigen zu bringen, diesen Typen, der ihn keuchend als Schwuchtel und Zuhälter beschimpfte. Das teigige Gesicht, die verschwommenen, blutunterlaufenen Augen da vor ihm reizten ihn maßlos. Wie kam dieses Schwein dazu, alles zerstören zu wollen, den Jungen, ihr gemeinsames Leben, ihre Zukunft?! Lloyd schlug wild und wahllos und trotzdem traf jeder Hieb. Er war in weitaus besserer Verfassung als sein Gegner, der vergeblich den Kopf hin und her warf, um Lloyds Fäusten zu entgehen. Mitten in sein ungebändigtes Prügeln hinein durchzuckte Lloyd die Ahnung, dass er aufhören musste, dass es ganz und gar falsch war, was er da tat. Aber er konnte nicht aufhören. Er war außer sich, außer Kontrolle. Der Mann unter ihm krallte sich an ihn, knurrte und fauchte wie ein Tier, schlang ihm die Hände um den Hals, drückte zu, und Lloyd nahm seinen Kopf und schlug ihn auf den Boden, einmal, zweimal, bis der Mann zusammensackte.
    Nach Atem ringend stand Lloyd auf. Er klopfte sich den Dreck von den Knien ab, richtete seine Jacke, die verzerrtan ihm herunterhing, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mit geschlossenen Augen stand er da und nahm nichts anderes wahr als das Rauschen in seinem Kopf, das sich mit dem Lärm der Straße vermischte, die hinter den Büschen entlanglief. Er musste sich zwingen, die Augen wieder zu öffnen und den Mann anzuschauen. Den Mann, dessen Schädel er so hart auf einen Stein geschlagen hatte, dass er tot war.

Qaanaaq, Nordwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Jonathan stand im Windschatten eines Felsens und las den Zeitungsartikel, den Gunnar Kleist ihm aufs Handy geschickt hatte. Es war eine knappe Meldung von zehn Zeilen.
    Ungeklärter Tod im Stadtpark
    Ein einundvierzig Jahre alter Deutscher, der erst vor Kurzem
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