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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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sich nicht ignorieren lassen wollte. Sie lehnte wenige Meter von ihm entfernt an der Reling, Jogginganzug, neu aussehende Laufschuhe, eine Frühaufsteherin. Ihr schwarzes Haar hing ihr bis über den Rücken, so dicht und schwer, dass der leichte Seewind es nicht aus der Ruhe bringen konnte. Sie war eine Inuit, aber sie sah nicht so aus, als ob sie ihm gefährlich werden könnte. Sie schien ihn nicht zu kennen.
    Jonathan konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit ihr zu sprechen. »Inuugujoq, kumoor«, wiederholte er. Er fühlte sich, als wäre er im Stimmbruch. Die Worte klangen ungeschliffen und spröde aus seinem Mund.
    Die Fremde sah ihn mit einem aufmunternden Lächeln an. Plötzlich war es ihm peinlich, so vor diesem Mädchen zu liegen, in T-Shirt und mit Boxershorts, die straff über seinen nackten Oberschenkeln spannten. Ungelenk stand er aus dem Liegestuhl auf und ging zu ihr hinüber. Aus der Nähe betrachtet sah sie älter aus, als er sie eingeschätzt hatte. Sie war sicher so alt wie er. So alt, wie auch Maalia jetzt sein musste. Sie zeigte Richtung Westen und sagte etwas, das er nicht verstand.
    »Uteqqissinnaaviuk?« Auch dieses Wort tauchte aus der Unergründlichkeit seines Gedächtnisses auf, als hätte es sich nur unter der Oberfläche versteckt gehalten. Er sprach es vorsichtig aus und ließ dabei die Frau nicht aus den Augen. Wie jemand, der Falschgeld herausgibt und darauf lauert, ob der andere es bemerkt. Sie sah ihn eine Sekunde zu lange an, als ob sie versuchte, ihn einzuschätzen. Jonathan wiederholte seine Frage auf Englisch. »Could you please repeat that?«
    »Wir können auch deutsch miteinander reden«, sagte sie. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und legte den Kopf schief. So wie Maalia es gemacht hatte.
    Maalia. Die letzten Jahre hatte er kaum an sie gedacht. Nur manchmal und mit der Zeit immer seltener war sie in seinen Träumen aufgetaucht, wo sie nach und nach von anderen Mädchen, anderen Frauen abgelöst worden war. Sie war ihm nicht wichtig gewesen, warum auch. Die Rolle, die sie in seinem Leben gespielt hatte, war nur die einer Statistin gewesen. Eigentlich hatte er sie kaum gekannt. Und doch war als Erstes sie ihm in den Sinn gekommen, als er erfahren hatte, dass die Alaska nach Grönland fahren würde. »Du kommst zurück«, hatte sie ihm damals zum Abschied zugeflüstert. Sie hatte ihm mit den Lippen über das Ohr gestrichen und ihm war heiß geworden trotz der Kälte, die an seinem letzten Morgen in Grönland geherrscht hatte.
    Die Fremde lehnte jetzt direkt neben ihm an der Reling, ihre Ellenbogen berührten sich fast. »Ich habe gehört, wie du mit dem Steward deutsch geredet hast.« Sie hatte einen leichten dänischen Akzent. War sie eine Grönländerin, die in Dänemark lebte und dort Deutsch gelernt hatte?
    »Okay, das vereinfacht die Sache.« Jonathan räusperte sich. »Ich kann nur ein paar Brocken Grönländisch. Ich ...« Er brach ab und bemühte sich zu lächeln. »Ich glaube, ich muss in die Kabine und mir etwas Wärmeres anziehen.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte er ihr die schwarzen Härchen, die sich von der Kälte sträubten, eine Geste, die ihm selbst übertrieben vorkam. Abrupt wendete er sich ab.
    Während er über das Deck zur Treppe ging, spürte er ihren Blick in seinem Rücken so intensiv, dass es wehtat. So als würde sie ihm mit dem Fingernagel die Wirbelsäule entlangstreichen. Was sah sie in ihm? Einen nicht übel aussehenden Typen mit Dreitagebart, dessen schwarze Haare zerwühlt und struppig waren, als hätte er eine wilde Nacht hinter sich? Einen unbeholfenen Penner, der am Abend zu viel getrunken hatte? Oder durchforstete sie gerade ihre Erinnerungen, weil sie ihn doch noch erkannt hatte?
    An der Treppe, die nach unten führte, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Sie lag jetzt in seinem Liegestuhl, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schaute hinaus aufs Meer. Ein schönes, harmloses Bild. Nein, er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte ihn einfach nur für einen Grönländer gehalten, mit dem sie ein paar Worte wechseln wollte. Bleib locker, Jonathan.
    Trotzdem, die Begegnung mit der Frau hatte ihn irritiert. Und nicht nur, weil sie ihn an Maalia erinnerte. Durch das kurze Gespräch hatte er begriffen, dass es sinnlos war vorzugeben, kein Grönländisch zu sprechen. Er war wie ein Schwimmer, den man ins Meer warf und der schwimmen würde, ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, es nicht zu tun. Wenn er es geschickt anstellte,
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