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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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alle möglichen Bücher über Imkerei zu bestellen und das Internet zu durchforsten. Tagelang saß er zu Hause am Computer und las sich fest. »Auf Island haben sie es auch geschafft«, ließ er mich wissen. »Apis mellifera mellifera, die schwarze Biene, dreizehn Kilo Honig hat ein einziger Bienenstock im Sommer 2003 gebracht, und der war nicht mal besonders warm.«
    Wenn mein Vater einen seiner Träume träumte, dann mussten alle mit träumen. Das heißt, ICH musste es. Bis er dann auch diesen Traum im Alkohol ertränkte. So wie die Idee, ein Reisebüro für deutsche Trekkingtouristen aufzumachen oder in unserem schäbigen Haus ein Bed & Breakfast einzurichten. Ein paar Wochen war er Feuerund Flamme und dann blieb nur noch ein Häufchen Asche übrig. Aber dieses Mal hatte er eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt. Und das lag daran, dass bei diesem Stück ICH die Hauptrolle spielen sollte. Meine Zukunft in Grönland sollten die Bienen sein. Ich sollte sie hochpäppeln und ihnen den Honig abluchsen und er wollte dann den Vertrieb übernehmen. Den Herbst über und den ganzen langen Winter nervte er mich mit dem Quatsch. Wir hatten sogar Bienenkästen gezimmert. Sie lagen halb fertig und vom Schnee und Regen verwittert hinter unserem Haus. Der Daumennagel, den er sich dabei zerquetscht hatte, war immer noch schwarz.
    Ich hielt das Fluchen und Husten im Zimmer nebenan nicht mehr aus, nahm wieder meine Daunenjacke vom Haken und ging aus dem Haus. Ich stemmte mich gegen den Wind, lief hinunter zum Hafen und schaute dem Sonnenuntergang über dem Fjord zu. Irgendwann würde ich woanders leben und dann würde ich es schaffen, meine eigenen Träume zu träumen. Irgendwo, wo es richtige Straßen gab, die nicht nach wenigen Kilometern im Wasser oder im Eis endeten. Wo man mit der U-Bahn fahren konnte und durch breite Alleen ging, in denen die Menschen vor den Cafés saßen und sich von gut aussehenden Kellnern ihre Drinks bringen ließen. Große Städte, in denen du ewig laufen kannst und niemanden triffst, der deinen Namen kennt. Irgendwann würde ich weit weg von hier leben. Alles war weit weg von hier aus.
    Ich sah zu dem Touristenschiff hinüber, das im Hafen lag. Ich sah die Leute an der Reling stehen, dünne schwarze Silhouetten vor gleißendem Gold, und hörteihre begeisterten Rufe. Es war der Sonnenuntergang. Jeden Abend bejubelten sie ihn.
    Ja, irgendwann würde ich diesen wahnsinnigen Himmel nicht mehr sehen, diesen Himmel, der in Gelb, Orange, Rot und Violett leuchtete, von schwarzen Wolkenfetzen durchzogen, ein Himmel, wie kein Maler der Welt ihn malen konnte. Sogar die zusammengeschaufelten Schneeberge am Straßenrand färbte er rosa. Immer wenn ich diese Farben sah, die sich im Weiß des Treibeises spiegelten, begriff ich, warum mein Vater nach Grönland gekommen war, vor zwanzig Jahren, und warum er hierblieb.
    »Hey, Pakku!«
    Ich drehte mich um und erkannte Aqqaluk. Er hatte die gleiche beige Daunenjacke an wie ich, die gleichen Goretexstiefel und die gleichen halblangen, glatten schwarzen Haare. Er sah aus wie ich, und das war eins von den Dingen, die mich so deprimierten. Es gab so viele hier wie mich und so wenige, die ganz anders aussahen. Wir kauften unsere Jeans, unsere Jacken und selbst unsere Unterhosen in denselben Läden, gingen zum selben Friseur, hatten dieselben gelangweilten Gesichter.
    »Hey, Pakku, wieso warst du nicht im Daisy? Kommst du noch mit rüber zu Ingvar?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Lust auf einen Nachmittag bei Ingvar. Auch das war immer das Gleiche. Wir würden ziemlich viel Bier trinken, Pornos im Internet anschauen und noch mehr Bier trinken. Vielleicht auch Wodka, falls Ingvars Vater seinen Schrank nicht abgeschlossen hatte. Ingvars Vater, Gunnar Kleist, gehörtenein paar Privatflugzeuge und ein Hubschrauber, und er und Ingvar bildeten sich eine Menge darauf ein.
    »Sorry, Aqqa, keine Zeit.« Ich stand auf, warf einen letzten Blick zu den Touristen hinüber, winkte Aqqaluk zu und rannte nach Hause.
    In Deutschland war es Abend. Vielleicht wartete Spider ja noch auf mich.

MS Alaska, Nordatlantik, Sommer 2020
    Jonathan ließ sich gerade einen zweiten Milchkaffee bringen, als er die schwarzhaarige Fremde am Buffet entdeckte. Auch sie hatte ihn gesehen und nickte ihm zu. Ein Tablett mit Brötchen, Obst, Müsli, Rührei und Schinken in den Händen balancierend kam sie auf ihn zu. Den Trainingsanzug hatte sie gegen eine enge schwarze Hose und einen
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