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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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dünnen Pullover getauscht. Sie war sexy, keine Frage, auch wenn sie nicht sein Typ war. Die Frauen, die ihm spontan gefielen, sahen anders aus: blond, zierlich, mit schmalen Gesichtern und hellen Augen, so als ob er in ihnen das Gegenteil seiner selbst suchte. Einen Menschen, der das Sonnenlicht reflektierte, statt es zu absorbieren.
    Sie stellte ihr Tablett auf seinen Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich schon, während sie noch »Darf ich?« fragte.
    Jonathan schob die Vase mit den künstlichen Blumen zur Seite, damit sie das, was sie auf ihrem Tablett hatte, auf dem Tisch ausbreiten konnte. »Wie viele Leute erwartest du noch?«, fragte er und ließ den Blick über all das Essen wandern, das sie um ihren Frühstücksteller herum verteilte.
    »Seeluft macht hungrig, genau wie Joggen«, sagte sie, während sie mit dem Müsli begann. »Läufst du auch?«
    Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich bin mehr der Fußballtyp.«
    Sie musterte ihn ohne Hemmung. »Wie heißt du eigentlich?«
    »Jonathan.«
    »Ich heiße Shary.«
    »So wie der Hurrikan, der Kuba zerstört hat?«
    »Genau.« Sie lachte. »Sei lieber vorsichtig. Ich kann ganz schön stürmisch werden.«
    Jonathan erwiderte ihr Lachen. »Ich kann auf mich aufpassen«, sagte er. »Aber Namen haben keine Bedeutung.« Er nahm sich von den Blaubeeren, die in einem Schälchen vor ihm standen. Doch anstatt die Beere in den Mund zu stecken, zerdrückte er sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Als Kind hab ich Bickbeeren dazu gesagt, aber offiziell heißen sie Heidelbeeren. Auf Dänisch werden sie, glaube ich, bølle genannt. Dieser Beere ist das ziemlich egal, schätze ich. Ich weiß, dass Menschen ihre Kinder nicht zufällig Felix oder Victoria oder auch Adolf nennen. Aber ich bin mir sicher, dass Namen nur ein Etikett sind. Im Gegensatz zu der hier können sie nicht abfärben.« Er nahm seine Serviette und wischte sich den rötlichen Saft von den Fingern.
    Sie ließ eine halbe Minute verstreichen, bis sie weitersprach. Die Frage, die sie ihm dann stellte, überraschte ihn. »Wo warst du, als New York unterging?«
    Jonathan brauchte nicht lange zu überlegen. Die Tage, in denen die Katastrophenmeldungen aus den USA durch die Medien gegangen waren, würden ihm auf immer im Gedächtnis bleiben. Es waren aufwühlende Bilder gewesen, auch wenn der Hurrikan Laura verhältnismäßig wenige Todesopfer gefordert hatte – anders als die kurz zuvorin den Tropen wütenden Taifune, die etliche Millionenstädte in Südostasien vernichtet hatten. Die Evakuierung Manhattans war unglaublich geordnet vonstattengegangen, obwohl die Subway unter Wasser stand und als Transportmittel der Millionen Menschen ausgefallen war. Aber die Stadt war durch die Katastrophen in Asien alarmiert gewesen und hatte vorsorglich eine eigene Busflotte für den Notfall angelegt, wofür man allerdings den Central Park geopfert hatte. Die New Yorker hatten die Situation mit einer unvergleichlichen Gelassenheit akzeptiert. Als dann, am 26. September 2019, der Wirbelsturm mit unerwarteter Wucht auf Manhattan traf und die Insel innerhalb von Stunden in den Fluten versank, sodass nur noch die Wolkenkratzer aus dem Wasser ragten, hatte die Welt den Atem angehalten. Dabei hatte sie sich doch in den vergangenen Jahren an Untergangsszenarien gewöhnt. Das Wasser hatte verheerende Verwüstungen hinterlassen und ein großer Teil der Ostküste war nicht mehr bewohnbar.
    In den Monaten danach hatte Jonathan eine Skulptur geschaffen, eine Art Friedhof mit Grabsteinen, auf denen Sendemasten und Antennen wie Spinnenbeine in den Himmel ragten. Es war seine erste wirklich gute Arbeit gewesen, viel besser als die Skulptur, mit der er im Jahr davor einen internationalen Wettbewerb gewonnen hatte. Aber durch die Auszeichnung damals hatte er zum ersten Mal Geld mit seiner Bildhauerei verdient, satte fünftausend Euro. Das Geld war erst ein paar Tage auf seinem Konto gewesen, da hatte er sich das Ticket für die Fahrt auf der Alaska gekauft – die Fahrt, die eigentlich nach New York gehen sollte.
    Jonathan versuchte, sich wieder auf Shary zu konzentrieren, die mit verschränkten Armen dasaß und auf seine Antwort wartete. »Ich war in Berlin«, sagte er. »Um an einem Workshop teilzunehmen, für Bildhauer. Wir haben allerdings nicht mehr gearbeitet, sondern uns die Übertragungen aus den USA angeschaut. Es waren wahnsinnige Szenen ... Und du? Wo warst du?«
    »Ich war in Kopenhagen bei meiner Schwester. Ich habe ihr
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