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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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begann. Arm in Arm stemmten er und Shary sich gegen den Wind. Sie ließen die Grabstellen mit den Holzkreuzen links liegen, denn Jonathan hoffte, dass man seiner Mutter eine Steinplatte gewidmet hatte. Ein Holzkreuz wäre in dem rauen Klima sicher schon vermodert.
    Als er Shary erzählt hatte, dass er nach dem Grab seiner Mutter suchen wollte, hatte sie unbedingt mitgewollt, obwohl ihr der Fuß wehtat. Jetzt war Jonathan froh, nicht alleine über diesen traurigen Flecken Erde gehen zu müssen. Was für ein Leben mochten die Menschen, an deren Überresten sie vorbeikamen, geführt haben, hier oben auf der Insel, wo die Hälfte des Jahres Dunkelheit herrschte?
    Auch Shary wirkte bedrückt. »Wie gut, wenn man daranglauben kann, dass sich die Seele längst in eine Wolke oder einen Adler verwandelt hat, bevor man in so einen Betonklotz eingemauert wird«, sagte sie. »Oder vielleicht schlüpft sie ja auch in einen Eisberg, wenn man hier stirbt.«
    Jonathan antwortete ihr nicht; er hatte ihr gar nicht richtig zugehört, denn in diesem Moment entdeckte er das Grab seiner Mutter. »Da ist es!«, rief er. Er ließ Sharys Arm los und lief ein paar Schritte voraus. Vor einem schmucklosen, nur mit Steinen und einem grauen Quader bedeckten Grab hielt er an. Shary, die sich neben ihn stellte, sprach Namen und Daten leise aus.
    Evie Kristiansen
    1968–1994
    »Sie ist im selben Jahr gestorben, in dem ich geboren wurde«, sagte Jonathan.
    Die Oberkörper gegen den Wind gebeugt, standen sie vor dem Grab, Jonathan mit dem Arm um Sharys Schultern. Er versuchte sich zu erinnern. Ein einziges Bild hatte er von seiner Mutter gesehen. Ein Passfoto, auf dem sie unglaublich jung ausgesehen hatte, in einer Schublade in der Küche, zusammen mit ein paar Papieren seines Vaters. Auf seiner Flucht von der Insel hatte er das Foto mitgenommen, nur um es wenige Tage später auf dem Grund des Meeres zu versenken. Und so, wie es dort schon längst verschwunden war, hatte sich auch Jonathans Erinnerung für immer aufgelöst. Es war Maalias Gesicht, das er vor sich sah, ihre hohen Wangenknochen,die schwarzen, schrägen Augen und ihr hintergründiges Lächeln, das sie ihm in Svens Krabbenschuppen zugeworfen hatte. Waren Maalia und seine Mutter sich ähnlich gewesen?
    »Er kommt ganz nach seiner Mutter.« Von irgendwo aus der Tiefe seiner Erinnerungen tauchte dieser Satz auf. Ein Satz, der ihn damals verletzt hatte, ausgegrenzt aus der Welt des großen blonden Mannes, der ihn ausgesprochen hatte. Doch jetzt, in diesem Moment, mit Shary an seiner Seite, fühlte Jonathan so etwas wie einen trotzigen Stolz. Er sah ihr also ähnlich, seiner Mutter. Er war der Sohn dieser Frau, die hier begraben lag. Er war Grönländer. Neun Jahre lang hatte er versucht, das zu vergessen. Aber es war ihm nicht gelungen und das war richtig so.
    »Meinst du, dein Vater lebt vielleicht hier in Qaanaaq?«, fragte Shary unvermittelt. »Vielleicht hast du ihn deshalb im Süden nicht gefunden.«
    Jonathan lachte bitter auf. »Nein. Ich hab ...«, setzte er an, doch in diesem Moment meldete sich sein Handy. Er ließ Shary los, holte das Telefon aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Es war Gunnar, endlich! Mit angehaltenem Atem las er den kurzen Gruß, den Gunnar ihm zuschickte. Den Gruß und die Überschrift eines Zeitungsartikels vom 20.12.2011. Der Artikel war auf Deutsch, aus dem Hamburger Abendblatt . »Ungeklärter Tod im Stadtpark«.
    Der eisige Wind trieb Jonathan die Tränen in die Augen und ließ die Buchstaben auf dem Display verschwimmen. Er rieb sich mit dem Ärmel übers Gesicht und starrte auf die winzigen Buchstaben. Wieso das Hamburger Abendblatt ?Wieso im Stadtpark? Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Gunnar von einem Artikel aus dem Atuagagdliutit gesprochen hatte. War sein Vater in Deutschland ums Leben gekommen?
    »Schlechte Nachrichten?« Shary stupste ihn sachte an der Schulter.
    Jonathan sah sie mit einem hilflosen Blick an. »Mein Vater ist nicht in Qaanaaq, Shary. Er ist überhaupt nicht in Grönland. Mein Vater ist seit Jahren tot. Ich weiß es seit gestern. Und jetzt erfahre ich, dass er in Deutschland gewesen ist ...« Er unterdrückte den Wunsch, den Text auf der Stelle zu lesen, steckte das Handy wieder ein und vergrub die kalten Hände in den Jackentaschen. »Komm«, sagte er. »Lass uns irgendwohin gehen, wo es nicht so schrecklich windig ist.« Unschlüssig warf er einen Blick auf das Grab seiner Mutter. Er wollte
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