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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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aus seiner Wahlheimat Grönland nach Hamburg zurückgekehrt ist, ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Peter Wildhausen wurde am 15. Dezember mit gebrochenem Genick im Hamburger Stadtpark aufgefunden, wo er laut Obduktion zwei Tage lang in einem Gebüsch gelegen hatte. Da er rund 2000 Kronen in der Brieftasche hatte und offenbar nicht ausgeraubt wurde, geht die Polizei von einer Beziehungstat aus. Es gibt jedoch bisher keine Details über die Lebensumstände des Mannes.
    Jonathan lehnte sich gegen den Felsen. Ihm war schwindelig. Das Gefühl, die Erde würde sich unter ihm drehen, das er in den ersten Tagen in Nuuk gehabt hatte, hatte ihn wieder gepackt. Sein Vater war in Deutschland gewesen, in dem Jahr, in dem er selbst Grönland verlassen hatte? Konnte es denn sein, dass er all die Jahre davon ausgegangen war, sein Vater lebe in Grönland, währender in Wirklichkeit nur ein paar Kilometer von ihm entfernt auf einem Friedhof gelegen hatte? Was war die Wahrheit? Spielte Gunnar ein falsches Spiel mit ihm? Gaukelte er ihm diese Nachricht nur vor, um ihn von weiteren Nachforschungen nach seinem Vater abzuhalten? Oder war der Tote in Hamburg vielleicht gar nicht Peter Wildhausen? War er vielleicht ebenso irrtümlich identifiziert worden wie ...
    Jonathan biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Ihm kam plötzlich alles unwirklich vor. Er sah zu Shary hinüber, die einen Meter von ihm entfernt stand, um ihn ungestört lesen zu lassen. Sie erwiderte seinen Blick, und die Anteilnahme und Wärme in ihren Augen erschienen ihm in diesem Moment als das einzig Reale in seinem Leben.
    »Alles okay?«, fragte sie.
    »Nein«, antwortete Jonathan. »Ich brauche noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken.«
    Am graugelb leuchtenden Himmel konnte man hinter der Wolkendecke die Sonne ahnen, die hier oben im Sommer nie unterging. Jonathan sah wieder aufs Handy und las den Text ein zweites Mal. Irgendetwas irritierte ihn. Er hatte das Gefühl, als ob da etwas war, was er eigentlich erkennen müsste, wenn er nur genau genug hinschaute. Irgendein Detail in diesem Artikel hatte ihn stutzig gemacht, aber er wusste nicht, welches. Er wählte Gunnar Kleists Nummer. Kurz darauf hörte er dessen tiefe Stimme und schon bei den ersten Worten merkte er, dass Gunnar nicht bereit war, ein längeres Gespräch mit ihm zu führen.
    »Hör zu«, sagte er, noch bevor Jonathan ihm eine Fragestellen konnte. »Ich habe dir den Zeitungsartikel geschickt. Und ich kann dir auch noch verraten, dass ich deinem Vater damals das Flugticket nach Hamburg besorgt habe. Einfach nur, weil er mir nach deinem vermeintlichen Tod leidgetan hat, Pakkutaq. Er wollte nicht mehr in Grönland bleiben, das weiß ich. Aber sonst weiß ich nichts über ihn, absolut nichts. Du brauchst mich nicht noch einmal anzurufen, klar?«
    Jonathan nickte. »Ja«, antwortete er. »Klar. Vielen Dank auf jeden Fall.« Er steckte das Handy wieder in die Tasche. Gunnar hatte ihn abgewimmelt. Aber es war ihm trotzdem nicht so vorgekommen, als ob er ihm etwas verheimlichen wollte. Warum auch? Inwiefern hätte ein heruntergekommener Alkoholiker Gunnar Kleist gefährlich werden können?
    Plötzlich war es Jonathan, als griffe eine Hand nach seinem Herzen. Er wusste plötzlich, was ihn irritiert hatte. Es war das Datum gewesen, der vermutliche Todestag seines Vaters, der 13. Dezember 2011. Er konnte sich noch genau an jenen Tag erinnern, weil er das Ende seines Lebens mit Lloyd bedeutet hatte. Am 12.12. war Lloyds Geburtstag gewesen, sie hatten die Wohnung voller Gäste gehabt, es hatte einen Streit mit dem griechischen Nachbarn gegeben. Und am Tag danach hatte Lloyd ihn weggeschickt. Weg aus Hamburg, weg aus der Wohnung, in der er sich doch fast schon wie zu Hause gefühlt hatte, weg aus seinem Leben. Wieder einmal war ihm ganz plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Er hatte bis heute nicht verstanden, warum.
    Nein, bis heute nicht.

Hamburg, Winter 2011
    Jonathan wachte erst am Mittag auf. Der Traum, in dem er seinen Vater so entsetzlich brüllen gehört hatte, hing ihm noch nach. Es war das erste Mal gewesen, dass er von seinem Vater geträumt hatte, und er versuchte, die Erinnerung daran von sich zu schieben. Lustlos zappte er sich durch die Fernsehprogramme und stand dann auf. Lloyd war sicher schon längst wach und hatte bereits gefrühstückt. Hoffentlich war seine Laune besser als am Abend zuvor, wo er nach dem kurzen Wortwechsel mit Manoli ziemlich einsilbig gewesen
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