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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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Lloyds merkwürdigem Verhalten erzählt.
    »Lass die beiden in Ruhe«, sagte sie. »Der Junge hat vor irgendetwas Angst. Und Lutz genauso.«
    »Lutz?« Manoli schüttelte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht hast du recht, Elena. Er hat Angst, Jonathan zu verlieren. Er liebt ihn mehr, als er zeigen kann.« Er sah zu Lloyd hinüber, dem anzusehen war, dass er nervös war. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm«, murmelte Manoli. »Wer weiß, was da los ist?«
    Doch Lloyd wusste selbst nicht wirklich, was eigentlich passiert war. Nur, dass die Bedrohung, die über Jonathan schwebte, näher gekommen war. Sie hatte buchstäblich vor der Tür gestanden. All das Unheimliche, was er vor ein paar Tagen erfahren hatte, war plötzlich nicht nur Theorie. Jonathan war in Gefahr.
    Lloyd hatte es nicht mehr ausgehalten, nichts zu wissen außer den wenigen Fakten, die er Jonathans Ausweis entnommen hatte. Und so hatte er eine Detektei beauftragt, mehr über Jonathan Querido herauszufinden. Es war keine Woche her, dass er im Büro der Detektei den dünnen Aktenordner studiert hatte. Die Informationen, die sich auf Jonathans Familie bezogen, waren dürftig, aber sie halfen ihm, die untergründige Traurigkeit zu begreifen, die der Junge ausstrahlte.
    Wenn Lloyds Informant sich nicht irrte, dann waren Jonathans Eltern und Geschwister bei dem verheerenden Taifun ums Leben gekommen, der die philippinische Provinz Iloilo vor zwei Jahren heimgesucht hatte. Fast alle Städte hatten unter Wasser gestanden. In dem Chaos, das wochenlang herrschte, hatte sich die Spur des damals Fünfzehnjährigen verloren. Wie es ihm gelungen war, sichnach Manila durchzuschlagen, wo er im Dezember 2010 auf der Alaska angeheuert hatte, blieb unklar. Und ein noch größeres Rätsel war die Tatsache, dass dieser Junge aus einfacher Familie in nur sechzehn Monaten ein so unglaublich gutes Deutsch gelernt haben sollte, auch wenn er auf der Alaska überwiegend mit dem Bremer Küchenchef zu tun gehabt hatte.
    Es gab jedoch eine Spur, die Jonathan deutlich hinterlassen hatte, und das war die seiner Drogenkarriere. In Manila war er mit Cannabis und Methamphetamin aufgegriffen worden. Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, so wäre er aufgrund der großen Menge an Rauschgift zum Tode verurteilt worden, obwohl er nach Einschätzung der philippinischen Polizei nur als Drogenkurier eingesetzt worden war. Irgendwie hatte er es geschafft, aus der Untersuchungshaft zu entkommen und kurz darauf auf der MS Alaska anzuheuern, die auf einer Kreuzfahrttour im Hafen von Manila gelegen hatte. Der Detektiv vermutete, dass Hintermänner ihm diesen Job verschafft hatten, damit er Drogen nach Europa schmuggeln konnte. War es möglich, dass er schon in der Haft begonnen hatte, Deutsch zu lernen, um auf seinen Job bestmöglich vorbereitet zu sein? Lloyd hatte sich von der Arbeit des Detektivs Klarheit erhofft. Doch jetzt war er umso irritierter.
    »Es scheint, als ob der Junge mit all dem nichts mehr zu tun haben will und deswegen von der Alaska abgehauen ist«, hatte der Detektiv zu Lloyd gesagt. »Seien Sie vorsichtig. Wenn er seine Auftraggeber um die Ware geprellt hat, kann das für Sie beide gefährlich werden.«
    Lloyd war beunruhigt. Seit dem Gespräch mit demDetektiv hatte er Jonathan nie länger als ein paar Stunden alleine gelassen. Wenn er mit ihm in der Stadt unterwegs war, schaute er sich immer wieder aufmerksam um. Jetzt verstand er, warum Jonathan kein Interesse hatte, das Haus zu verlassen, sondern sich tagelang in seinem Zimmer oder im Atelier vergrub. Er hatte Angst.
    Was für ein Glück, dass es nicht Jonathan gewesen war, der diesem heruntergekommenen Fremden die Tür aufgemacht hatte. »Wo ist der Junge?«, hatte der Mann gezischt und dabei wütend an Lloyds Arm gezerrt. Und Lloyd hatte gewusst, dass Jonathans Vergangenheit ihn eingeholt hatte.

Qaanaaq, Nordwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Zum zweiten Mal auf dieser Reise ging Jonathan mit Shary über einen Friedhof. Es war ein baum- und strauchloser Platz über dem Meer, nackt und kahl wie ein Fußballfeld. Der Boden war so hart, dass man einige der Särge einfach in einen Betonklotz eingegossen und auf den felsigen Untergrund gestellt hatte. Der Wind kam in Böen vom Meer, zerriss die Wolken zu rötlichen Fetzen und zerrte an den verblichenen Plastikblumen auf den Gräbern. Das Wetter war umgeschlagen, es roch nach Schneesturm. Plötzlich wusste Jonathan wieder, wie die Luft schmeckte, kurz bevor es zu schneien
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