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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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so wie die Geschichten aus der Bibel, die mir meine Großmutter abends am Bett erzählt hatte. Aber immerhin schien ihn dieser Glaube davon abzuhalten, sich wie seine jüngeren Brüder mit Bier vollzudröhnen. Und obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie die alten Frauen und Männer ausgerechnet beim Schwitzen das Problem der Erderwärmung in den Griff bekommen wollten, fand ich Anga und seine Erzählungen weniger verrückt als meinen Vater mit seinen Schnapsideen.
    Es war merkwürdig: Wenn Anga von der Zukunft redete, dann war das etwas, das es schon zu geben schien, so wie die Gegenwart und die Vergangenheit. Manchmal hörte es sich an, als sei sie schon passiert, und man konnte eh nichts mehr dran ändern. Er zerbrach sich nicht den Kopf darüber, was er mit sich und seinem Leben anfangen sollte. Wenn er was plante, dann kam es mir vor, als wäre es genau das, was jetzt eben dran war. Auch Aqqaluk nahm es ganz cool hin, dass er mit der Schule fertig war und sich sein Leben zwangsläufig änderte. Er machte sich keine großen Gedanken über die Richtung, in die es jetzt gehen würde.
    Nur für mich war die Zukunft, meine Zukunft, wie ein Schulaufsatz, den ich seit Wochen vor mir herschob, um den ich mich herumdrückte und der mir ständig ein mieses kleines schlechtes Gewissen machte. Ich wusste, dass ich mich endlich dransetzen musste, aber ich hatte keinen Schimmer, wovon er handeln sollte.

MS Alaska, Südwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Die grüngraue Küste Grönlands schimmerte über dem Meer in der Sonne, die tiefen Einschnitte der Fjorde schufen ein bizarres Muster. Aus der felsigen Landschaft ragten schneebedeckte Berge in den Himmel; sie erinnerten daran, dass die Südhälfte der Insel früher auch im Sommer eisbedeckt gewesen war. Doch mittlerweile zog sich ab Juli das Eis weit von den Küsten zurück. Der eisige Panzer, der jahrtausendelang viel zu dick gewesen war, um zu schmelzen, hielt den ständig steigenden Temperaturen nicht mehr stand.
    Die Wissenschaftler – selbst die, die stets als Ökopessimisten belächelt worden waren – hatten das Tempo, in dem die Eisschmelze vonstattengehen würde, unterschätzt. Weltweit waren die Temperaturen schneller und höher gestiegen als angenommen, das ewige Eis war dramatischer geschmolzen, subtropische Meeresströmungen hatten es in ungeahntem Ausmaß auch von unten schmelzen lassen. Weil die eisfreien, dunklen Landmassen mehr Wärme absorbierten als zuvor die weiße Eisdecke, erwärmte sich die Luft nochmals spürbarer.
    Selbst im hohen Norden der Insel gab es nur noch wenige Inuit, die der traditionellen Lebensweise der Jäger und Fischer nachgingen. Einige Orte waren aufgegeben worden, aber andere wie Nuuk, Ilulissat und Sisimiutwaren gewachsen, was nicht zuletzt daran lag, dass das wärmere Klima immer mehr Touristen ins Land brachte. Nach und nach gab das abschmelzende Eis riesige Vorkommen an Öl und Erdgas, Gold, Silber und Uran frei und der damit verbundene wirtschaftliche Boom brachte den Grönländern einen zunehmenden Wohlstand. Einen Wohlstand allerdings, der genau dosiert war. Das Land, das seine Unabhängigkeit von Dänemark erlangt hatte, wurde mittlerweile ausgebeutet wie nie zuvor. Die internationalen Energiekonzerne hatten das Ruder übernommen.
    Jonathan stand an der Reling und schaute zur Insel hinüber. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Nuuk zu sehen sein würde. Er musste allmählich mal in seine Kabine gehen, um seine Sachen zu packen. Und natürlich musste er auch irgendjemandem Bescheid sagen, dass er von Bord gehen und wahrscheinlich erst zur Rückfahrt wieder dabei sein würde. Schließlich wollte er nicht durch sein Verschwinden Unruhe stiften und womöglich eine Suchaktion auslösen. Mann über Bord ... Plötzlich spürte Jonathan, wie die bedrückende Angst in ihm aufstieg, die ihn sonst nur nachts in der Enge der Kabine packte. Musste man so eine Kreuzfahrt nicht durchziehen, wenn man sie gebucht hatte? Vielleicht war es ja gar nicht erlaubt, einfach so das Schiff zu verlassen und Grönland auf eigene Faust zu besuchen.
    Ein kalter Wind pfiff aus Norden und Jonathan zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich in Nuuk bleiben sollte. Reichte es nicht aus, Grönland auf Stippvisiten von der Alaskaaus kennenzulernen? Sie würden die ganze Küste hochfahren und die Insel umrunden, bevor sie von Nuuk aus wieder nach Deutschland zurückfuhren. Er könnte einfach an Deck
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