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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
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abhängen, seine Erinnerungen in Bier ertränken und das Leben genießen. Vielleicht sogar mit dieser Shary.
    Wie aufs Stichwort stand auf einmal Shary Enoksen neben ihm. »Hast du gewusst, dass Grönland jedes Jahr ein paar Zentimeter größer wird?«, fragte sie ihn unvermittelt. »Die Insel steigt langsam, aber sicher aus dem Meer auf, weil die Eismassen nicht mehr so ein Gewicht haben.«
    Jonathan nickte. »Ja«, antwortete er wortkarg und sah sie von der Seite an. Sie war hübsch mit ihrer bronzefarbenen Haut und den langen schwarzen Haaren. Und sie war weder dumm noch unsympathisch. Also warum nicht? Warum nicht eine nette kleine Affäre hier an Bord und dann wieder zurück nach Hamburg in den Alltag? Niemand zwang ihn, in Nuuk auszusteigen. Es war doch verrückt, eine geänderte Reiseroute als einen Fingerzeig des Schicksals zu interpretieren. Warum hatte er diese Reise überhaupt angetreten, anstatt sich das Geld von der Reederei auszahlen zu lassen, als feststand, dass die Alaska nach Grönland fahren würde und nicht in die USA?
    Er hatte immer schon nach New York gewollt, nach Manhattan. Und dann, im letzten Herbst, war ihm ein Prospekt der Alaska in die Hände gefallen. Das Bild des weißen Schiffes hatte ihn getroffen wie ein Stromschlag und er hatte den Prospekt in den Papierkorb geworfen. Doch am nächsten Tag hatte er ihn wieder hervorgeholt,weil sie ihm nicht aus dem Kopf ging, die Alaska. Er hatte gesehen, dass ihre Fahrt nach New York ging. 5000 Euro sollte die Reise kosten, gerade so viel, wie er durch den Wettbewerb verdient hatte.
    Wie kindisch war es zu glauben, dass das alles kein Zufall war: der Prospekt mit dem Bild der Alaska, die fünftausend Euro, die Änderung der Reiseroute. Vielleicht sollte er nach Grönland fahren, hatte er gedacht. Vielleicht musste das so sein. Vielleicht sollte er nach Grönland zurückkehren, auf der Alaska, auch wenn das sein Leben zerstören würde. Vielleicht war es endlich Zeit für Jonathan Querido zu sterben.
    »Was ist mit dir?« Shary stieß ihn mit dem Ellenbogen an. »Du machst ein Gesicht, als ob du in die Strafkolonie fährst und nicht in den Urlaub.«
    Jonathan löste den Blick nicht von der grünen Küste, die kaum näher zu kommen schien. Er quälte sich ein Lächeln ab. »Strafkolonie? Wer weiß ... Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, wo ich hinfahre«, sagte er.
    »Bist du das erste Mal in Grönland?«
    »Ja«, antwortete Jonathan und immer noch fiel es ihm schwer zu lügen.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Das Klingeln meines Handyweckers riss mich aus einem wirren Sextraum und ich versuchte, ihn einzufangen. Doch das Schnarchen meines Vaters, das bei den dünnen Wänden unseres Hauses nicht zu überhören war, verscheuchte ihn endgültig. Es war Montag, sein freier Tag, das hieß, er musste nicht in den Supermarkt, wo er von Dienstag bis Sonnabend an der Kasse hockte. Ich warf meine Bettdecke zur Seite, widerstand der Versuchung, den PC einzuschalten, setzte Kaffee auf und briet mir in der Küche ein paar Nudeln vom Vortag in der Pfanne. Ich hatte mir vorgenommen, ausnahmsweise mal pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Sven hatte mich gewarnt. Wenn ich mich nicht zusammenriss, wäre ich den Job schneller los, als ich ihn ergattert hatte.
    Krabbenpulen. Das war ein Scheißjob, viel mieser ging’s eigentlich gar nicht. Aber ich konnte mich glücklich schätzen, überhaupt mein eigenes Geld zu verdienen. Es gab nicht viel zu tun in Nuuk.
    »Handarbeit«, hatte Sven gesagt, dämlich gegrinst und seine schmierige Rechte geschüttelt. »Da seid ihr Jungs doch in Übung, oder?« Dann hatte er Aqqaluk und mich in seine Halle am Hafen geschoben und uns unserem Schicksal überlassen. Wie wir die ekeligen Krabben aus ihren Schalen herausbekamen, mussten wir bei den anderen abgucken. Aber da wir alle gemeinsam per Kilobezahlt wurden, sahen sie zu, dass wir es schnell und gründlich lernten. »Er wird ungemütlich, wenn er noch Schalen findet. Dann schmeißt er uns das Zeug vor die Füße«, hatten die anderen uns eingetrichtert.
    Sven hatte in seinem Schuppen eine vorsintflutliche Krabbenpulanlage eingerichtet. Eigentlich war es nichts anderes als ein sich langsam drehendes Fließband, das immer im Kreis lief. Mit rund acht bis zehn Leuten saßen wir um das Band herum und fummelten die winzigen Krabben aus ihrer Schale.
    Wenn mal jemand von Royal Greenland vorbeikommen sollte, die den Grönländer Garnelenhandel managten, würde der sich erst totlachen
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