Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken
Autoren: Cornelia Franz
Vom Netzwerk:
Mutter gewesen, ich kannte keine andere. Manchmal kam ich mir vor, als wäre ich sein Klon. Ein Klon, der durch einen verrückten Tick der Natur wie das komplette Gegenteil aussah. Mein Vater blond und blauäugig, derreinste Wikinger, und ich mit pechschwarzen Haaren und Augen wie Murmeln aus Lavastein. Vielleicht war das der Grund, warum ich oft das Gefühl hatte, im falschen Körper zu stecken.
    Ein einziges Mal hatte mein Vater eine Bemerkung über mein Aussehen gemacht. Es war an dem Tag gewesen, als ich ihn kennenlernte, ein paar Wochen nach dem Tod meiner Großmutter. Ich war neun Jahre alt und ich war in ein fremdes Land gekommen, von dem ich nicht viel mehr wusste, als dass es dort Eisbären und Robben und Schlittenhunde gab. Und einen Mann, der mein Vater war. Ein fremder Mann, von dem ich bisher nur ein paar Fotos gesehen hatte.
    Was mich damals am meisten beschäftigte, war die Frage, wie ich diesen Mann nennen sollte. Meine Großmutter hatte immer nur den Ausdruck dein Vater benutzt, wenn sie von ihm gesprochen hatte. Aber als ich im Flughafengebäude auf den großen, blonden Mann zuging, wusste ich, dass ich es nicht fertigbringen würde, Papa zu ihm zu sagen. Am liebsten hätte ich ihn mit dem Vornamen angeredet. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, mir fiel nicht ein, wie er hieß. Konnte es denn sein, dass ich den Vornamen meines Vaters nicht kannte? Hatte meine Großmutter ihn nie erwähnt? Oder hatte ich nie richtig zugehört, wenn sie von ihm gesprochen hatte? Hatte ich den Namen einfach vergessen, weil ich ja nicht ahnen konnte, dass er einmal wichtig für mich werden würde?
    Die Stewardess von Air Greenland, die mich hinter der Passkontrolle an meinen Vater übergab, hatte ihn erstauntangesehen. »Sie sind der Vater von Pakkutaq?«, hatte sie gefragt.
    »Ja, natürlich bin ich der Vater von dem Jungen. Würde ich ihn sonst abholen? Er kommt ganz nach seiner Mutter«, hatte er geantwortet. Ich war mir sicher, dass er enttäuscht von mir war. Von dem fremden Jungen, den er das letzte Mal gesehen hatte, als er ihn als Baby nach Deutschland gebracht und bei seiner eigenen Mutter abgeliefert hatte. Er sah mich an, als ob ich ein Kuckuck wäre. Was hatte er geglaubt? Dass neun Jahre in Niedersachsen einen Blondschopf aus mir gemacht hatten?
    Mein Vater klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Türpfosten. »Honig. Das ist es!«, sagte er, wobei er jede Silbe einzeln betonte. »Kapierst du, Pakku?«
    »Klar, kapier ich. Wir reden morgen drüber, okay?« Ich ging zu ihm und schob ihn zur Tür hinaus. »Schlaf dich aus«, sagte ich und drückte hinter ihm die Tür ins Schloss.
    Als ich im Bett lag, war mir von dem Bier übel und ich hatte einen faden, säuerlichen Geschmack im Mund. Mann, warum hatte ich nicht einfach nur Wasser getrunken? Trotz des Biers nagte ein hungriges kleines Tier in meinem Magen. Ich hatte vergessen, zu Abend zu essen. Jetzt fiel es mir ein, doch ich hatte keine Lust mehr aufzustehen. Der Wind rüttelte an den Fensterläden, das Haus war kalt und ich war müde und deprimiert. Aber grinsen musste ich trotzdem. Die große Eisschmelze, der Klimawandel, sila assallattoq ... Alle diskutierten sich die Köpfe heiß, was das für Grönlands Zukunft bedeutete, und manche sahen ziemlich schwarz. Nur für meinen Vater war alles schon ganz klar: Wärme, Blümchen, Bienen, Honig, Reichtum.
    Was die optimistische Haltung anging, zog mein Vater an einem Strang mit Aqqaluks ältestem Bruder Angaju. Vor ein paar Tagen hatte er mir erzählt, dass es bei den Kalaallit eine uralte Prophezeiung gibt. »Wenn das große Eis schmilzt, die Erde in Bedrängnis ist und auf Grönland wieder Bäume zu wachsen beginnen, wird das Heilige Feuer auf die Insel zurückkehren und mit ihm wird eine neue Weisheit in die Welt ziehen.« Angaju wollte unbedingt dabei sein, wenn sie im Sommer in Kangerlussuaq ein Heiliges Feuer abbrannten, aus Robbenfett und dem Holz der Bäume, die es im Süden Grönlands gab. Die Stammesältesten würden dann in die Schwitzhütte gehen, um diese neue Weisheit zu empfangen. »Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten«, hatte Anga gesagt. »Aber sie wird es wiederfinden, wenn das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen beginnt.«
    Ich mochte es, wenn Anga vom Glauben und der Weisheit der Inuit erzählte, von Sedna, der Mutter des Meeres zum Beispiel, die in der Tiefe wohnt und die Menschen bestraft, die ihr zu viele Tiere wegnehmen, auch wenn mir vieles seltsam düster vorkam,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher