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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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»mein Herr«) zugeschrieben wurde, sollte ihm, wie Glogauer erschien, lediglich mehr Gewicht verleihen. In einer Welt, in der Politik und Religion, selbst im Westen, unentwirrbar miteinander verquickt waren, mußte dem Plan eine übernatürliche Herkunft gegeben werden.
    Es war in der Tat sogar äußerst wahrscheinlich, daß Johannes selbst glaubte, sein Plan komme direkt von Gott. Die Griechen auf der anderen Seite des Mittelmeers stritten immer noch über den Ursprung der Inspiration - ob sie im Menschen selbst entstehe oder ihm von Gott eingegeben würde.
    Daß Johannes ihn als einen ägyptischen Zauberer ansah, überraschte Glogauer auch nicht besonders. Die Umstände seiner Ankunft mußten den Leuten außerordentlich wundersam erschienen sein und dennoch glaubwürdig, da sie doch so sehr nach Bestätigung ihres Glaubens an solche Dinge lechzten.
    Johannes wandte sich dem Eingang zu. »Ich muß nachdenken«, sagte er. »Ich muß beten. Du bleibst hier, bis mir Rat gesandt worden ist.«
    Er schritt rasch davon.
    Glogauer sank auf das nasse Stroh zurück. Irgendwie bestand eine Verbindung zwischen seinem Erscheinen und dem Glauben des Täufers - oder Johannes versuchte wenigstens, dieses Erscheinen mit seinem Glauben in Einklang zu bringen, seine Ankunft vielleicht anhand von biblischen Weissagungen zu deuten. Glogauer fühlte sich hilflos. Wie würde der Täufer ihn benutzen? Würde er am Ende zu dem Schluß kommen, daß er irgendeine bösartige Kreatur sei, und ihn töten? Oder würde er zu dem Schluß kommen, daß er irgendein Prophet sei, und Weissagungen von ihm verlangen, zu denen er nicht imstande wäre?
    Glogauer seufzte und streckte schwach den Arm aus, um die Wand zu betasten.
    Sie war aus Kalkstein. Er war in einer Kalksteinhöhle. Höhlen deuteten an, daß Johannes und seine Leute sich vielleich verborgen hielten - bereits als Banditen von den Soldaten der Römer und des Herodes gesucht wurden. Das bedeutete, daß er auch in Gefahr wäre, wenn die Soldaten das Versteck des Johannes fänden.
    Die Luft in der Höhle war überraschend feucht.
    Es mußte draußen sehr heiß sein.
    Er fühlte sich schläfrig.
    Das Sommerlager 1950, Isle of Wight
Am ersten Abend, den er dort verbrachte, war eine Kanne mit kochendheißem Tee über seinen rechten Oberschenkel geschüttet worden. Es hatte schrecklich geschmerzt, und es hatten sich fast sofort Blasen gebildet.
    »Sei ein Mann, Glogauer!« sagte der rotgesichtige Mr. Patrick, der das Lager leitende Lehrer. »Sei ein Mann!«
    Er versuchte sich das Weinen zu verkneifen, als sie ungeschickt Gipsbrei auf die Watte strichen.
    Sein Schlafsack war neben einem Ameisenhaufen. Er lag darin, während die anderen Kinder spielten.
    Am nächsten Tag sagte Mr. Patrick den Kindern, daß sie sich das Taschengeld, das ihre Eltern ihm zur Aufbewahrung gegeben hatten, ›verdienen‹ müßten.
    »Wir werden sehen, wer von euch Mumm hat und wer nicht«, sagte Mr. Patrick und ließ den Rohrstock durch die Luft sausen, während er auf dem freien Platz stand, um den herum die Zelte aufgebaut waren. Die Kinder waren in zwei langen Reihen aufgestellt - in einer die Mädchen, in der anderen die Jungen.
    »Stell dich in die Reihe, Glogauer!« rief Mr. Patrick. »Drei Pence für einen Schlag auf die Hand - sechs Pence für einen Schlag auf den Hintern. Sei kein Feigling, Glogauer!«
    Widerstrebend reihte Glogauer sich ein.
    Der Rohrstock sauste auf und nieder. Mr. Patrick atmete schwer.
    »Sechs Schläge auf den Hintern - das macht drei Schillinge.« Er gab dem kleinen Mädchen das Geld.
    Weitere Schläge, weitere Auszahlungen.
    Karl wurde unruhig, als die Reihe bald an ihn kam.
    Schließlich trat er aus und ging zu den Zelten zurück.
    »Glogauer! Hast du keinen Mumm in den Knochen, Junge? Willst du kein Taschengeld?« rief Mr. Patricks derbe Stimme spottend hinter ihm her.
    Glogauer schüttelte den Kopf und begann zu weinen. Er ging in sein Zelt und warf sich schluchzend auf den Schlafsack.
    Draußen war Mr. Patricks Stimme immer noch zu hören.
    »Sei ein Mann, Glogauer! Sei ein Mann, Junge!«
    Karl holte Briefpapier und Kugelschreiber heraus. Seine Tränen fielen auf das Papier, während er den Brief an seine Mutter schrieb.
    Draußen hörte er den Rohrstock auf das Fleisch der Kinder klatschen.
    Die Schmerzen in seinem Oberschenkel wurden am nächsten Tag schlimmer, und er wurde von Lehrern und Kindern ignoriert. ›Sogar die Heimmutter‹ (Patricks Frau) sagte ihm, er solle sich
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