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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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Mythos geschaffen wurde, sondern eine Lüge, die in den nachfolgenden Jahrhunderten immer größer werden wird?
    »Antworte!« möchte man Karl Glogauer zurufen, »welche Lüge meinst du!« Für Karl Glogauer besteht selbst in seinem Sterben keine Hoffnung mehr, und auch darin übertrifft sein Opfer - es wird ihm spät, zu spät bewußt - das des biblischen Jesus um ein Vielfaches. Jesus, Inkarnation Gottes auf Erden, ertrug seine irdischen Leiden ohne Klagen. Für ihn war sein Weg durch die Welt eine Durchgangsstation. Der Heiland ging nach seinem irdischen Tod in das Reich Gottes ein - ein ehrenvoller Lohn für das von ihm Vollbrachte - doch welcher Lohn erwartet Karl Glogauer?
    Er, der gelitten hat wie Jesus, erkennt im Moment, da er am Kreuz stirbt, den Mythos als Mythos und stellt fest, daß er der Schöpfer dieses Mythos ist und für ihn nicht einmal die Hoffnung bleibt, die die nachfolgenden Generationen in seine Gestalt setzen werden. Die Menschen werden sich an seine Lüge klammern, und Karl Glogauer weiß es. Wenn er Christus ist, dann ist Gott eine Lüge - doch die Warnung verhallt ungehört.
    Michael Moorcock hat in dem Roman I.N.R.I. einige Anleihen bei der Psychologie, besonders bei C. G. Jung gemacht, die einerseits die psychische Disposition seines Protagonisten begreifbar machen, andererseits auf die psychologischen Implikationen der Religion abzielen. Im Mittelpunkt steht dabei der von G. G. Jung gebrauchte Begriff des kollektiven Unbewußten, den dieser im Gegensatz zum persönlich Unbewußten als »eine in jedermann vorhandene, allgemein seelische Grundlage überpersönlicher Natur« beschreibt. Repräsentiert werden diese Strukturen in Märchen und Mythos (!) als Erbe der Menschheit in Form der representations collectives (Levy-Bruhl), die symbolische Werte primitiver Weltanschauung ausdrücken. Bei Moorcock zeigt sich dies in der Sehnsucht des Protagonisten nach einem Erlöser bzw. Erlösung, wie es die Gefährtin Glogauers, Monica, mehrfach ausdrückt.
    Die Sehnsucht nach dem Erlöser (dem Messias, auf den die Juden heute noch warten) äußert sich bei Karl Glogauer in dem Wunsch, bei der Kreuzigung Christi anwesend zu sein. Als seine Hoffnung enttäuscht wird, nimmt er schließlich die Stelle des Erlösers ein und stellt am Kreuz fest, daß der Erlöser selbst nicht erlöst werden kann: »Es ist eine Lüge.«
    Dieser Wunsch, dabei zu sein, wenn ein Mythos entsteht, offenbart einen weiteren Aspekt des Scheiterns: Der Versuch Karl Glogauers an die Wurzeln des Mythos vorzudringen, ihn dem Dunkel der Überlieferung zu entreißen und zu verifizieren, d.h. nicht zuletzt die Wunder des Christentums als Augenzeuge zu überprüfen, muß erfolglos bleiben, denn die Annäherung an den Mythos entblößt diesen der mythischen Ausformung - er wird trivial.
    So erklären sich die Wunder-Heilungen des Karl Glogauer, das Laufen auf dem Wasser und das Verschwinden des Leichnams, der von Ärzten gestohlen wird, durchaus in Übereinstimmung mit der Rationalität, da der Mythos noch nicht ausgeformt ist. In ähnlicher Weise hat sich der Mythos von Kaiser Friedrich Barbarossa, der im Kyffhäuser sitzen und irgendwann einmal auferstehen und das Deutsche Reich neubegründen soll, entwickelt. Der Beweis für den Glauben - in diesem Fall Christus am Kreuz sterben zu sehen - kann und darf nicht erbracht werden, denn damit würde dem Christentum eben diese unabdingbare Kategorie entzogen werden, es geriete ins Joch der Rationalität - geriete zur Science Fiction. Somit zerfällt die vitae Christi bei der Annäherung mit der Zeitmaschine zu einem Konglomerat von Zufälligkeiten, die nie den Boden des empirischen Weltbildes verlassen und in dem die Person des Mythenschöpfers austauschbar ist - nicht über die Funktion, die er erfüllt.
    Leicht kann bei der Lektüre des Romans I.N.R.I. der Eindruck entstehen, dem Autor ginge es nur um Effekte, mit denen er allerdings auch nicht spart. Leicht stellt sich die Vermutung ein, hier will ein Schriftsteller einen blasphemischen Angriff auf die Religion loswerden, doch so zu urteilen wäre falsch, und man würde Michael Moorcock Unrecht tun.
    I.N.R.I. zeigt, wie Religion, nicht nur das Christentum, entstehen, und legt darüber hinaus schonungslos offen, daß die Interpretation der Ereignisse sich unter günstigen Umständen verselbständigt und eine Eigendynamik entwickelt.
    Gleichzeitig wird die Frage nach Christus gestellt, und Michael Moorcock trennt die Funktion von der
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