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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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Jesu zu einer Untersuchung freigegeben worden - in Abrede zu stellen, trennt Moorcock den Mythos von der Person. Diese Person Jesus wurde nicht etwa vom Heiligen Geist oder einem Engel empfangen, nein, wie die Schlampe Maria selbst sagt »Ja er [der Vater von Jesus - FFM] war ein Teufel (…) Und er war ein Mann…«, Jesus ist ein Kind der Sünde, die Ausdruck in seinem deformierten Menschsein findet.
    Doch was hier auf den ersten Blick so blasphemisch klingt, ist bei genauerer Überlegung keineswegs so. Jesus ist ja nicht Jesus Christus, sondern ein Schwachsinniger, dem alle in der Bibel zugeordneten Attribute fehlen. Er wurde nicht vom Heiligen Geist empfangen, seine Mutter war keine unbescholtene Jungfrau, ihr Mann, von Vater kann man ja nicht sprechen, kein ehrbarer Zimmermann, und Jesus selbst ist nichts weniger als ein Erlöser. Moorcocks Jesus von Nazareth ist ein Mensch, der diesen Namen trägt, wie wahrscheinlich viele zu dieser Zeit in Israel, wo es auch in Nazareth bestimmt noch einige Personen gab, die so hießen. Der biblische Jesus wird zum Erlöser durch seine göttliche Herkunft, bei der man unschwer den Einfluß hellenistischen Gedankengutes erkennen kann (man erinnere sich an Zeus und Alkmene, die Gattin des Amphitryon und dem aus dieser Verbindung entsprungenen Herakles), durch sein Wirken und durch seinen Opfertod am Kreuz. Alles dies fehlt dem Schwachsinnigen, der in einem armseligen Hinterzimmer in Nazareth dahinvegetiert. Die Funktion Jesu ist in dem Mythos und die vitae Christi erfüllt alle Voraussetzungen eines Mythos (an dieser Stelle muß auf eine Begriffsbestimmung aus Opportunität verzichtet werden), festgelegt. Diese Funktion ergibt sich aus den oben genannten Attributen, von denen nur eines von Karl Glogauer nicht erfüllt wird: die göttliche Herkunft. Doch wie in den Gesprächen mit Johannes dem Täufer schon anklingt, muß für die Menschen im Israel der Zeitwende Glogauers Erscheinen in der Zeitmaschine Züge göttlicher Herkunft tragen.
    Karl Glogauer ist nicht Jesus, aber in seinem Leidensweg, den er erst unfreiwillig, dann aber, durch die Umstände gezwungen, immer bereitwilliger annimmt, zeigt sich, daß der Mythos, auch wenn er sich Christentum nennt, von der Person unabhängig ist.
    Ein Mythos ist nicht an ein Individuum gebunden, sondern an die von ihm repräsentierte Funktion. So auch in I.N.R.I. in bezug auf die Gestalt des Protagonisten Karl Glogauer. Er leistet fast mühelos - unterstützt durch eine Zeit und von Moorcock eindringlich geschilderten Umständen, die solche Wunder geradezu herausfordert - diese Wunder, an die eine Gesellschaft, in der Magie noch im Bereich des Alltäglichen lag, nur allzugerne glauben will. In dem Verhältnis zu seinen Jüngern zeigt sich ein weiteres Mal die extreme Willkürlichkeit, und die Festlegung auf eine Funktion: Sie werden nach ihren Namen auserwählt, um die schon bestehende biblische Überlieferung zu verifizieren. Geschichte wird damit zum Palimpsest, das getilgt und mit dem gleichen - schon gelesenen - Text neu beschrieben wird.
    Sogar seinen eigenen Untergang muß Karl Glogauer noch arrangieren, denn keiner der Jünger, nicht einmal Judas Ischariot, käme auf den Gedanken, den Propheten des Heils zu verraten. Gerade in diesem Umstand zeigt sich, daß Karl Glogauer, der Substitut, größer ist als der, dessen Stelle er eingenommen hat. Jesus, hier der biblische und nicht die fiktionale Figur Moorcocks, war ein still erduldender, einer, der eigentlich über das Predigen hinaus nie zum Handelnden wurde, der, laut göttlicher Fügung in einer Form fast islamischer Unterworfenheit unter das, was im Buch des Schicksals geschrieben steht, sein Fatum annahm. Karl Glogauer muß das Spiel, in dem er sich wiederfindet erst noch selbst inszenieren. Er geht nicht offenen Auges in seinen Untergang, der ihm vorherbestimmt ist, nein, er richtet ihn sich selbst ein, um den Mythos, die Überlieferung zu erfüllen.
    Damit bleibt in I.N.R.I. jeder göttlicher Wille auf der Strecke, wird zum Theaterdonner oder, um noch einmal mit Goethe zu sprechen: »Laßt uns auch so ein Schauspiel geben/Greift nur hinein ins volle Menschenleben.« Die vitae Christi, sein Leidensweg, ist nicht mehr Ausdruck göttlicher Fügung, sondern Schauspiel; in Szene gesetzt von dem Juden Glogauer, der mit seiner Umwelt (in der Gegenwart des 20. Jahrhunderts) nicht zurechtkam. Dieses Judentum des Protagonisten ist denn auch die einzige Gemeinsamkeit, die Glogauer und
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