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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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verteidigen, muß es Streit geben.«
    »Du sprichst von organisierter Religion…«
    »Ich spreche von Religion im Gegensatz zum Glauben. Wer braucht das Ritual einer Religion, wenn wir das weit überlegene Ritual der Wissenschaft an seine Stelle setzen können? Religion ist ein brauchbarer Ersatz für Wissen. Aber wir brauchen keinen Ersatz mehr, Karl. Die Wissenschaft bietet uns eine viel gesündere Grundlage für die Formulierung von Denkmodellen und einer Ethik. Wir brauchen das Zuckerbrot des Himmels und die Peitsche der Hölle nicht mehr, wenn uns die Wissenschaft die Konsequenzen unseres Handelns zeigen kann und der Mensch leicht selbst beurteilen kann, ob er richtig oder falsch handelt. «
    »Das kann ich nicht akzeptieren.«
    »Weil du krank bist. Ich bin auch krank, aber ich habe wenigstens die Aussicht auf die Gesundung vor Augen.«
    »Ich sehe nur den drohenden Tod…«
    Wie sie vereinbart hatten, küßte Judas ihn auf die Wange, und die gemischte Streitmacht aus Tempelwachen und römischen Soldaten umringte sie.
    Zu den Römern sagte er, mit ziemlicher Mühe. »Ich bin der König der Juden.« Zu den Dienern der Pharisäer sagte er: »Ich bin der Messias, der gekommen ist, eure Herren zu vernichten.«
    Jetzt hatte er sich ihnen ausgeliefert, und das Schlußritual konnte beginnen.
    19
    Es war ein unordentlicher Prozeß, eine willkürliche Vermischung römischen und jüdischen Rechts, die niemanden so recht zufriedenstellte. Der Zweck wurde erreicht, nach mehreren Konferenzen zwischen Pontius Pilatus und Kaiphas und drei Versuchen, ihre verschiedenen Rechtssysteme so zurechtzubiegen, daß sie den Erfordernissen der Situation gerecht würden. Beide Seiten brauchten einen Sündenbock zu unterschiedlichen Zwecken, und so kamen sie schließlich zu dem gewünschten Ergebnis, und der Verrückte wurde verurteilt, einerseits wegen Aufruhrs gegen Rom und andererseits wegen Ketzerei.
    Eine Besonderheit des Prozesses war, daß die Zeugen alle Anhänger dieses Mannes waren und dennoch den Anschein erweckten, als wollten sie ihn alle verurteilt sehen.
    »Ach, die krankhaften Fanatiker«, sagte Pilatus: Er war zufrieden.
    Die Pharisäer waren einverstanden, und die römische Hinrichtungsmethode wurde in diesem Fall der Zeit und der Situation am ehesten gerecht. So wurde beschlossen, ihn zu kreuzigen. Der Mann hatte jedoch einen großen Ruf, so daß es notwendig sein würde, einige der erprobten römischen Methoden zur Demütigung anzuwenden, um ihn in den Augen der Pilger zu einer bedauernswerten und lächerlichen Gestalt zu machen.
    Pilatus versicherte den Pharisäern, daß er dafür sorgen würde, aber er sorgte auch dafür, daß sie Dokumente unterschrieben, aus denen hervorging, daß sie seinen Aktionen zustimmten.
    Der Gefangene war schweigsam, schien aber fast zufrieden zu sein. Er hatte während des Prozesses genug gesprochen, um seine Verurteilung herbeizuführen, hatte aber wenig zu seiner Verteidigung gesagt.
    Es ist vollbracht.
    Mein Leben ist bestätigt.
    Die Kriegsknechte aber führten ihn hinein in das Richthaus und riefen zusammen die ganze Schar und zogen ihm einen Purpur an, und flochten eine dornene Krone und setzten sie ihm auf und fingen an, ihn zu grüßen: Gegrüßet seist du, der Juden König! Und schlugen ihm das Haupt mit dem Rohr und verspeiten ihn und fielen auf die Knie und beteten ihn an. Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpur aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn aus, daß sie ihn kreuzigten.
    Markus 15, 16-20
    »Oh, Karl, du würdest alles tun, um Beachtung zu finden…«
    »Sie wollen im Rampenlicht stehen, junger Mann…« »Mein Gott, Karl, was würdest du nicht alles tun, um Beachtung zu finden…«
    Nicht jetzt. Nicht dieses. Es ist zu nobel.
    Lachten die Gesichter ihn durch den Schleier der Schmerzen an?
    War sein eigenes Gesicht dabei, mit lächerlichem Selbstmitleid im Blick? Sein eigener Geist…?
    Aber sie konnten ihm das tiefe Gefühl der Befriedigung nicht nehmen, das er empfand. Das erste vollständige Erlebnis dieser Art, das er je gehabt hatte.
    Sein Geist war jetzt getrübt durch die Schmerzen und durch die rituellen Schmähungen; durch sein völliges Aufgehen in seiner Rolle.
    Er war zu schwach, das schwere Holzkreuz zu tragen, und ging dahinter her, als es von einem Kyrener, den die Römer dazu gezwungen hatten, nach Golgatha geschleppt wurde.
    Während er durch die stumme Menge in den Straßen wankte, unter den Augen derer, die
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