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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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Schreie sie nur noch mehr anfeuerten, also biß er die Zähne zusammen. Tränen rollten ihm über das Gesicht, und er fühlte sich verwirrt und betrogen. Er hatte alle für Freunde gehalten; er hatte einigen von ihnen bei ihren Aufgaben geholfen, anderen Bonbons gekauft, einigen Mitleid gezeigt, als sie unglücklich waren. Er hatte geglaubt, sie mochten ihn, bewunderten ihn. Warum hatten sie sich gegen ihn gewandt - selbst Molly, die ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatte?
    »Bitte!« schrie er. »Das gehörte nicht zu dem Spiel!«
    »Jetzt tut es das!« lachte Mervyn Williams mit leuchtenden Augen und rotem Gesicht, während er noch kräftiger an dem Pfahl rüttelte. Eine Weile ließ sich Karl das Schaukeln noch gefallen, dann ließ er sich instinktiv zusammensacken und täuschte Bewußtlosigkeit vor. Er hatte so etwas schon früher gemacht, um seine Mutter zu erpressen, von der er den Trick gelernt hatte.
    Die Schulkrawatten, die sie als Fesseln benutzt hatten, schnitten ihm in die Handgelenke. Er hörte, wie die Kinder leiser wurden.
    »Ist ihm nicht gut?« flüsterte Molly Turner. »Er ist doch nicht tot, oder…?«
    »Red keinen Quatsch!« antwortete Williams unsicher. »Er macht bloß Spaß.«
    »Wir sollten ihn aber trotzdem lieber runterholen.« Das war Ian Thompsons Stimme. »Wir kommen in Teufels Küche, wenn…«
    Er spürte, wie sie ihn losbanden, wie ihre Finger an den Knoten zerrten.
    »Ich kann diesen nicht aufkriegen…«
    »Hier ist mein Taschenmesser - schneid ihn durch!«
    »Das kann ich nicht - es ist meine Krawatte - mein Vater würde mich…«
    »Beeil dich, Brian!«
    An der letzten Krawatte hängend, ließ er sich absichtlich sacken und behielt die Augen fest geschlossen.
    »Gib es mir! Ich schneide sie durch.«
    Als die letzte Fessel nachgab, ließ er sich auf die Knie fallen, zerschrammte sie sich auf dem Kies und fiel dann vornüber zu Boden.
    »Ich werd' verrückt, er ist wirklich…«
    »Red kein dummes Zeug - er atmet noch. Er ist nur bewußtlos.«
    Aus der Ferne, weil er von seiner Täuschung selbst halb überzeugt war, hörte er ihre besorgten Stimmen.
    Williams schüttelte ihn.
    »Wach auf, Karl! Hör auf mit dem Quatsch!«
    »Ich hole Mr. Matson«, sagte Molly Turner.
    »Nein, nich…«
    »Es ist sowieso ein gemeines Spiel.«
    »Komm zurück, Molly!«
    Den größten Teil seiner Aufmerksamkeit verlangten jetzt die Kiessplitter, die in die linke Seite seines Gesichts schnitten. Er fand es leicht, die Augen geschlossen zu halten und ihre Hände an seinem Körper zu ignorieren. Allmählich verlor er das Gefühl für die Zeit. Dann hörte er aus dem allgemeinen Gemurmel Mr. Matsons Stimme heraus. Sie klang tief, sardonisch und unbeirrt wie immer. Es wurde still.
    »Was in aller Welt hast du diesmal angestellt, Williams?«
    »Nichts, Sir. Es war ein Spiel. Es war zum Teil Karls eigene Idee.«
    Schwere männliche Hände drehten ihn um. Es gelang ihm immer noch, die Augen geschlossen zu halten.
    »Es war ein Spiel, Sir«, sagte lan Thompson. »Jesus. Karl war Jesus. Wir haben es schon öfter gespielt, Sir. Wir fesselten ihn an den Zaun. Es war seine Idee, Sir.«
    »Nicht ganz zur Jahreszeit passend«, murmelte Mr. Matson und seufzte, während er Karls Stirn befühlte.
    »Es war nur ein Spiel, Sir«, sagte Mervyn Williams wieder.
    Mr. Matson prüfte seinen Puls. »Du hättest klüger sein können, Williams. Glogauer ist kein sehr kräftiger Junge.«
    »Es tut mir leid, Sir.«
    »Wirklich eine große Dummheit.«
    »Es tut mir leid, Sir.« Williams war jetzt den Tränen nahe.
    »Ich werde ihn zur Vorsteherin bringen. Ich hoffe um deinetwillen, Williams, daß ihm nichts Ernstliches passiert ist. Melde dich nach der Schule im Gemeinschaftsraum bei mir!«
    Karl spürte, wie Mr. Matson ihn aufhob.
    Er war befriedigt.
    Er wurde weggetragen.
    Sein Kopf und seine Seite schmerzten so sehr, daß er das Gefühl hatte, er müßte sich übergeben. Es war ihm nicht möglich gewesen, genau festzustellen, wohin die Zeitmaschine ihn gebracht hatte, aber als er den Kopf drehte und die Augen öffnete, erkannte er an dem schmutzigen Schaffellwams und dem baumwollenen Lendentuch des Mannes zu seiner Rechten, daß er fast mit Sicherheit im Nahen Osten war.
    Er hatte beabsichtigt, im Jahre 29 n. Chr. in der Wüste hinter Jerusalem, unweit von Bethlehem zu landen. Ob sie ihn jetzt wohl nach Jerusalem trugen?
    Er war wahrscheinlich in der Vergangenheit, denn die Bahre, auf der sie ihn trugen, war offensichtlich aus
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