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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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nicht besonders gut gegerbten Tierfellen gemacht. Aber vielleicht auch nicht, dachte er, denn er hatte genug Zeit in den kleinen Stammessiedlungen im Nahen Osten zugebracht, um zu wissen, daß es noch Menschen gab, die ihre Lebensgewohnheiten seit Mohammeds Zeiten kaum geändert hatten. Er hoffte, er hätte sich nicht umsonst die Rippen gebrochen.
    Zwei Männer trugen die Bahre auf ihren Schultern, während andere auf beiden Seiten daneben hergingen. Sie waren alle bärtig und dunkelhäutig und trugen Sandalen. Die meisten trugen Stäbe. Er roch Schweiß und Tierfett und einen muffigen Geruch, den er nicht identifizieren konnte. Sie schritten auf eine ferne Hügelkette zu und hatten sein Erwachen nicht bemerkt.
    Die Sonne war nicht mehr so stark wie zu der Zeit, als er aus der Zeitmaschine gekrochen war. Es war vielleicht Abend. Das Gelände war felsig und kahl, und selbst die Hügel vor ihnen sahen grau aus.
    Er wimmerte, wenn die Bahre schaukelte, und stöhnte, als die Schmerzen in seiner Seite wieder nahezu unerträglich wurden. Zum zweitenmal wurde er bewußtlos.
    Vater unser, der du bist im Himmel…
    Er war wie die meisten seiner Mitschüler zu einem gewissen Lippenbekenntnis zur christlichen Religion erzogen worden. Morgendliche Gebete in der Schule. Er hatte sich angewöhnt, zwei Gebete am Abend zu sprechen. Das eine war das Vaterunser, und das andere lautete: »Gott segne Mami, Gott segne Papi, Gott segne meine Schwestern und Brüder und all die lieben Menschen, die mich umgeben, und Gott segne mich! Amen.« Das hatte ihm eine Frau beigebracht, die sich eine Zeitlang um ihn kümmerte, wenn seine Mutter zur Arbeit war. Er hatte dem selbst noch eine Reihe von Danksagungen (»Danke dir für den schönen Tag, danke dir dafür, daß ich die Fragen in Geschichte richtig beantwortet habe…«) und Entschuldigungen hinzugefügt (»Verzeih, daß ich häßlich zu Molly Turner war, verzeih, daß ich Mr. Matson nicht die Wahrheit gesagt habe…«). Er war siebzehn Jahre alt, bevor es ihm möglich war, ohne dieses Gebetsritual einzuschlafen, und selbst dann war es nur seine Ungeduld, zum Masturbieren zu kommen, die die Gewohnheit schließlich durchbrach.
    Vater unser, der du bist im Himmel…
    Seine letzte Erinnerung an seinen Vater war mit einem Urlaub an der See verbunden. Er war vier oder fünf gewesen. Damals war Krieg, die Züge waren voll von Soldaten. Sie hatten oft gehalten und waren oft umgestiegen. Er erinnerte sich, daß sie über Geleise gegangen waren, um auf einen anderen Bahnsteig zu kommen, und er hatte seinen Vater gefragt, was die Waggons enthielten, die im Sonnenschein neben ihnen verschoben wurden. Hatte es da nicht einen Witz gegeben? Etwas mit Giraffen?
    Er hatte seinen Vater als einen großen, starken Mann in Erinnerung. Seine Stimme war freundlich gewesen, vielleicht ein wenig traurig, und in seinem Blick hatte etwas Melancholisches gelegen.
    Er wußte jetzt, daß sich seine Eltern um jene Zeit getrennt hatten und seine Mutter seinem Vater diesen letzten Urlaub mit ihm zugestanden hatte. War es in Devon oder in Cornwall? Was er von Kliffs, Felsen und Strand in Erinnerung hatte, schien mit Landschaften im Westen des Landes übereinzustimmen, die er seither im Fernsehen gesehen hatte.
    Er hatte in seinem Obstgarten gespielt, in dem es von Katzen wimmelte. Darin hatte auch ein ausgedienter Ford gestanden, in dem Unkraut wuchs. Das Bauernhaus, in dem sie gewohnt hatten, war auch voll von Katzen gewesen; ein Meer von Katzen, das Stühle, Tische und Kommoden überschwemmte.
    Am Strand war Stacheldraht gewesen, aber er hatte nicht erkannt, daß er die Landschaft verschandelte. Es hatte Brücken und Statuen aus Sandstein gegeben, die Wind und Wasser geformt hatten. Es hatte rätselvolle Höhlen gegeben, aus denen Wasser lief.
    Es war fast die früheste und gewiß die glücklichste Erinnerung an seine Kindheit.
    Er sah seinen Vater nie wieder.
     

Gott segne Mami, Gott segne Papi…
    Es war blödsinnig. Er hatte keinen Papi, hatte keine Brüder und Schwestern.
    Die alte Frau hatte ihm erklärt, daß sein Papi irgendwo sein müßte und daß alle Mitmenschen Brüder oder Schwestern seien.
    Er hatte das akzeptiert.
    Einsam, dachte er. Ich bin einsam. Er erwachte kurz und dachte, er sei im Anderson-Luftschutzbunker mit dem rötlichen Stahlblechdach und den Drahtgitterwänden, und es sei Fliegeralarm. Er hatte sich in der Geborgenheit des Andersonbunkers immer wohl gefühlt. Es hatte Spaß gemacht,
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