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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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der biblische Jesus haben, der, was heute oft nicht mehr ins Bewußtsein dringt, auch Jude war.
    Dem Leser wird, geht er auf die Fiktion des Autors ein, in dem Moment, da sich Jesus als Schwachsinniger entpuppt, der Mythos bzw. der Glaube an die sich auf ihn gründende Kirche demontiert. Doch der Protagonist, von derselben Erkenntnis fast am Boden zerstört, begreift - allerdings nicht etwa seine Chance, er ist in letzter Konsequenz kein geltungssüchtiger, vom Leben vernachlässigter Niemand - die Notwendigkeit den Mythos zu schaffen.
    Damit entlarvt M. Moorcock schonungslos die Religion als das, was sie ist, ein Märchen. Ein Märchen, das, wie Propp nachgewiesen hat, nicht den individuellen Charakter benötigt, d.h. den einzelnen, unverwechselbaren Menschen, sondern eine Funktion (im Christentum den am Kreuz sterbenden, verratenen Erlöser), bei der es egal ist, von welcher Person sie ausgefüllt wird.
    Für die Menschen, aus deren Gegenwart Karl Glogauer mit seiner Zeitmaschine gestartet ist, ändert sich nichts. Der Jesus Zwischenfall wie Frank Herbert es einmal als Titel eines Romans recht treffend ausgedrückt hat, findet statt, was ändert es, wenn Christus Karl Glogauer heißt? Für den Mythos nichts, solange er sich erfüllt.
    Aber zurück zu der Frage nach dem Verhältnis der Science Fiction zur Religion.
    Kann eine Religion, oder die Kirche als institutionalisierte Religion, ein Thema für die Science Fiction sein?
    Schließen sich, geht man einmal von dem traditionellen Selbstverständnis der Science Fiction aus, wie es u.a. John W. Campbell formuliert hat, der sagte, daß Science Fiction von »technisch Interessierten über technisch Interessierte zur Befriedigung technisch Interessierten geschrieben würde, Science Fiction und Religion nicht aus? Die Science Fiction läßt nur - im Rahmen eines gattungsinternen Konsens - die Rationalität gelten, während die Religion gerade diese transzendiert und das irrationale Element zu ihrem Wesen macht.
    Genau an dieser Stelle greift M. Moorcocks Roman die Religion an ihrem verwundbarsten Punkt an - indem er sie des irrationalen Moments, landläufig als Glauben bezeichnet, entkleidet, ohne die Aussagen zu negieren. Er wird damit zum Atheisten, der die Religion genau da packt, wo sie sich am sichersten fühlt - auf ihrem ureigensten Terrain. Dazu benötigt der Autor allerdings eine Zeitmaschine, und wo bekommt er diese her: aus dem gut gefüllten Asservatenraum der Science Fiction.
    Mit dieser Zeitmaschine - ein direktes Nachfolgemodell der von H. G. Wells entwickelten, so mag es scheinen -
    macht sich nun Moorcocks Protagonist auf den Weg dorthin, wo alles begann. Er findet aber nicht etwa eine wohlgeordnete Welt vor, in der Jesus predigt, nein, die Welt ist zwar geordnet, doch nicht in der erwarteten Weise.
    Was nun bis zur Kreuzigung passiert, kann ein jeder in der Bibel nachlesen. Alles ereignet sich so, wie es von den Evangelisten berichtet wird, mit einem ganz kleinen Unterschied allerdings: Gott bleibt vor der Tür. Er wird nicht mehr benötigt; die Menschen schaffen sich ihren Mythos selbst, wie schon unzählige Male vorher und nachher. Gott ist, wenn überhaupt, ein deus absconditus.
    M. Moorcock packt nicht das Übel, wohl aber die christliche Kirche an ihrer Wurzel. Es gibt kein: Was wäre wenn, sondern nur ein: Jeder kann (wenn er im richtigen Moment an der richtigen Stelle ist) zum Religionsstifter werden.
    Karl Glogauer ist allein. Niemand stirbt neben ihm am Kreuz, wie es die Bibel berichtet, und er leidet auf Golgatha. Seine göttliche Sendung endet da, wo der Schmerz bewußt und übermächtig wird. Der Ausruf Jesu »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« wird von Glogauer, der so peinlich dem Mythos gefolgt ist und ihn damit geschaffen hat, nicht ausgesprochen. Statt dessen fleht er: »Laßt mich herunter! Bitte! Bitte hört auf!«
    Doch mit seinem Opfer hat er einen Mythos geschaffen, der sich in den folgenden Jahrhunderten verselbständigen wird. Die rationalen Erklärungen werden durch irrationale - spektakulärere - ersetzt, und Karl Glogauer wird göttliche Züge annehmen, doch ›es ist eine Lüge - es ist eine Lüge‹. Diese von dem Protagonisten mehrfach wiederholten Worte, seine letzten übrigens, - worauf beziehen sie sich? Auf die Lüge, deren Ausdruck er selbst ist? Auf die Lüge vom göttlichen Jesus, an die er sein Leben lang geglaubt hat? Oder ist es eine Warnung an alle zukünftigen Generationen, daß hier kein
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