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INRI

INRI

Titel: INRI
Autoren: Michael Moorcock
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Apostel), die am Jüngsten Tag die Richter sein würden, sie predigten den Glaubenssatz »Liebe deinen Nächsten«, sie glaubten, ebenso wie die ersten Christen, in der Zeit kurz vor dem Armageddon zu leben, der letzten Schlacht zwischen Licht und Finsternis, dem Guten und dem Bösen, wenn alle Menschen gerichtet würden. Wie bei gewissen christlichen Sekten gab es auch bei den Essenern den Glauben, daß sie die Kräfte des Lichts repräsentierten und andere - Herodes oder die römischen Eroberer - die Kräfte der Finsternis, und daß es ihr Auftrag sei, diese Kräfte zu vernichten. Diese politischen Vorstellungen waren unentwirrbar mit den religiösen Vorstellungen verknüpft, und obwohl es denkbar wäre, daß jemand wie Johannes der Täufer zynisch genug gewesen wäre, die Essener für die Förderung seiner eigenen politischen Absichten zu benutzen, war es doch höchst unwahrscheinlich.
    Im zwanzigsten Jahrhundert, dachte Glogauer, hätte man die Essener als Neurotiker angesehen, mit ihrem fast paranoischen Mystizismus, der sie dazu brachte, Geheimsprachen zu erfinden und ähnliches - ein sicheres Zeichen für ihren labilen Geisteszustand.
    All dies stellte Glogauer, der verhinderte Psychiater, fest, aber Glogauer, der Mensch, wurde hin- und hergerissen zwischen der extremen Vernunft und dem Wunsch, selbst von diesem Mystizismus überzeugt zu sein.
    Der Täufer war weggegangen, bevor er ihm weitere Fragen stellen konnte. Er sah den großen Mann in einer Höhle verschwinden und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf die Felder in der Ferne, wo ein magerer Essener einen Pflug führte, der von zwei anderen Mitgliedern der Sekte gezogen wurde.
    Glogauer studierte die gelben Hügel und die Felsen. Er brannte darauf, mehr von dieser Welt zu sehen, und er hätte auch gern gewußt, was aus seiner Zeitmaschine geworden war. War sie überhaupt nicht mehr zu reparieren? Würde er jemals in der Lage sein, diese Zeit zu verlassen und ins zwanzigste Jahrhundert zurückzukehren?
    Sexus und Religion.
    Dem Kirchenklub war er beigetreten, um Freunde zu finden.
     

Ein Ausflug ins Grüne, 1954
Er und Veronica hatten die anderen im Wald von Farlowe verloren.
    Sie war dick und unförmig, schon mit siebzehn, aber sie war ein Mädchen.
    »Laß uns ein bißchen hier sitzen und ausruhen«, sagte er und zeigte auf einen Hügel in einer kleinen, von Gebüsch umgebenen Lichtung.
    Sie setzten sich hin.
    Sie sagten nichts.
    Seine Blicke hingen nicht an ihrem runden, derben Gesicht, sondern an dem kleinen silbernen Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing.
    »Wir müssen wohl lieber die anderen suchen«, sagte sie unruhig. »Sie werden sich um uns sorgen, Karl.«
    »Sie sollen uns suchen«, sagte er. »Wir werden sie bald rufen hören.«
    »Sie könnten nach Hause gehen.«
    »Sie werden nicht ohne uns gehen. Mach dir keine Sorgen! Wir werden sie rufen hören…«
    Er beugte sich plötzlich vor und griff nach den mit einer marineblauen Wolljacke bekleideten Schultern, den Blick immer noch auf das Kreuz geheftet.
    Er versuchte ihre Lippen zu küssen, aber sie drehte den Kopf weg. »Komm, gib mir einen Kuß!« sagte er und hielt den Atem an. Schon in dem Augenblick wurde ihm bewußt, wie lächerlich, wie albern er sich benahm, aber er zwang sich weiterzumachen. »Gib mir einen Kuß, Veronica…«
    »Nein, Karl. Laß das!«
    »Komm…«
    Sie begann sich zu wehren, riß sich los und stand auf.
    Er errötete jetzt.
    »Entschuldige!« sagte er. »Entschuldige!«
    »Schon gut…«
    »Ich dachte, du wolltest es«, sagte er.
    »Du hättest mich doch nicht so überfallen müssen. Nicht sehr romantisch.«
    »Es tut mir leid…«
    Sie wandte sich zum Gehen. Das Kreuz baumelte. Es faszinierte ihn. Stellte es eine Art Amulett dar, gegen die Art von Gefahr, der sie eben entgangen war, wie sie gewiß meinte?
    Er folgte ihr.
    Bald hörten sie die Rufe der anderen im Wald, und Karl fühlte sich unerklärlicherweise angewidert.
    Einige der anderen Mädchen begannen zu kichern, und einer der Jungen sah ihn grinsend an.
    »Was habt ihr denn vorgehabt?«
    »Nichts«, sagte Karl.
    Aber Veronica sagte gar nichts. Obwohl sie nicht bereit gewesen war, ihn zu küssen, genoß sie doch offensichtlich die Anspielungen.
    Auf dem Rückweg hielt sie seine Hand.
    Es war dunkel, als sie bei der Kirche ankamen, wo sie noch für eine Tasse Tee einkehrten. Sie saßen nebeneinander. Die ganze Zeit starrte er das Kreuz an, das zwischen ihren schon großen Brüsten hing.
    Die
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