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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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Dach. Er ließ sich dort nieder, wo sie immer saßen, hielt Luz in seinem Schoß, umarmte ihn und stützte mit einer Hand seinen Kopf.
    »Weißt du … warum ich immer ganz normale Tauben gezüchtet habe … keine Turteltauben … oder andere seltene Vögel?«, sagte Luz mit seiner rauen engelsgleichen Stimme.
    »Nein …«
    »Weil ich gedacht habe … dass ich vielleicht eines Tages … nicht mehr da wäre ….« Seine Stimme wurde immer schwächer. »Und dann sollten sie … wenn sie vielleicht allein wären … sich selbst ihr Futter suchen können … irgendwo in der Stadt … ohne sich dort fremd zu fühlen … Deshalb habe ich ganz normale Tauben gezüchtet … damit sie sind wie alle anderen …«
    »Ja …«
    »Siehst du die Sterne, Ferrante?«
    »Ja … ich sehe sie.«
    »Sie funkeln doch, oder?«
    »Ja …«
    Palermo streichelte liebevoll über Luz’ Kopf, über die Narbe an der Schläfe, die wieder zur offenen Wunde geworden war. Dann ließ er seine Finger an den Backenknochen entlanggleiten und strich über die weichen Wangen. Luz hatte die Augen geschlossen, seine roten Lippen waren so zartrosa wie die Blütenblätter einer Kamelie.
    »Hast du ihn geliebt?«, fragte Palermo wieder.
    Luz riss erstaunt die Augen auf. Dann lächelte er. Wie ein Mann. Wie ein Erwachsener. Von dem Jungen war nichts mehr übriggeblieben.
    »Nein, Ferrante …«, sagte er. »Ich habe nie jemand anderen geliebt. Er hat mir nur gezeigt, dass die Wunde … noch einmal geöffnet werden musste …«
    »Er ist tot …«
    »Primo?«
    »Er hat sich erhängt …«
    Luz sah seinen Geliebten an. »Er war allein«, sagte er und starrte ihn weiter an. »Er … war allein«, sagte er noch einmal.
    Und da begriff Palermo, was Luz unausgesprochen ließ. Er las es in seinen Augen. Wie eine letzte Bitte.
    Er drückte ihn liebevoll an sich und legte seinen Kopf auf seine Knie.
    Berührte sanft das zarte Gesicht, bevor er seine beiden Hände tiefer gleiten ließ, wo sich feine blaue Adern unter der glatten Haut abzeichneten, und schloss die Finger um den langen eleganten Hals.
    »Das wird jetzt wehtun …«, sagte er mit tränenerstickter Stimme, »aber es ist zu deinem Besten.«
    Luz sah ihm in die Augen, nährte sich an dieser grenzenlosen Liebe. Er öffnete die Lippen und suchte den Mund seines Geliebten. Sterbend sah er das Licht , das er bewahrt hatte, wieder den Weg dorthin zurücknehmen, wo es vor zwölf Jahren verloren gegangen war.
    Palermo neigte sich über die vollen Lippen, sie erinnerten ihn an die Fische, wie er sie aus dem Netz gelöst hatte und dabei die Hände der beiden Brüder, der Fischer, berührte. Er beugte sich hinunter und küsste diese warmen Lippen. Spürte, wie salzig sie waren. Er beugte sich hinunter und küsste die Finger, die ersten, die er je hatte küssen wollen. Mit der Begeisterung und der Unschuld seiner vierzehn Jahre. Und er spürte, dass Luz’ Lippen von dieser Berührung nicht schmutzig wurden. Weil Luz inzwischen ein Mann geworden war und er selbst nur ein vierzehnjähriger Junge war, der niemandem etwas antun konnte und dem noch alles bevorstand, was man ihm antun würde. Er küsste ihn lange, wobei er den zarten Hals brutal zusammendrückte und den Zuckungen dieses Körpers Widerstand leistete, der sich hin und her warf wie ein Fisch auf dem Strand.
    Genauso lange wie das Leben, das ihnen blieb.
    Denn es gab keine andere Lösung.
    Er war unsicher, ob dies noch Liebe war oder bereits die Erinnerung daran.
    »Danke …«, flüsterte Luz sterbend dem Licht zu, das nun wieder in Ferrantes Augen erstrahlte.
    Und dann war da nur noch Dunkelheit.
    Amaldi folgte den Blutspuren den obersten Treppenabsatz hinauf. Er hatte sich das Kennzeichen des Lieferwagens notieren können. Das hatte ihn zu einem Blumengeschäft geführt und von dort aus zu der Adresse des Jungen, der die Bestellungen auslieferte.
    Die Tür zur Dachterrasse stand einen Spalt offen. Er stieß sie auf, die Waffe im Anschlag. Die Beamten hinter ihm warfen sich mit gezückten Waffen nach vorn und suchten mit den Taschenlampen schnell die Terrasse ab.
    Amaldi entdeckte ihn sofort.
    Palermo saß auf einem gemauerten Quader, in dem die Stromzähler untergebracht waren, mit dem Rücken zur Wand. Der andere lag dort, den Kopf in seinem Schoß. Er sah aus, als schliefe er.
    Palermo schien die Lichter der Taschenlampen nicht zu bemerken. Er schaute geradeaus und starrte auf den Horizont, wo es langsam hell wurde.
    »Ich habe meinen Geliebten ermordet«,
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