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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus
Autoren: Luca Di Fulvio
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Tasche und breitete sie auf dem Boden aus. Er schnitt die Narbe tief ein, von der Schläfe bis ganz nach hinten, kniete sich hin, sodass das Blut auf die Scheine tropfte. Dann setzte er sich und wartete, dass das Blut gerann.
    »Ich komme, Papa«, sagte er darauf mit der Stimme des Jungen.

XXI
    Palermo hatte sie im Dover Beach gesehen.
    Die Jagd hatte begonnen.
    Sie würden ihn fassen. Er hatte keine Chance mehr. Sie würden Luz fassen. Seinen Luz. Würden ihn in eine forensische Klinik zur Sicherheitsverwahrung einsperren. Wenn er Glück hatte.
    Palermo hatte sich gewaltsam Zugang zu der Kellerwohnung verschafft, in der Luz lebte. Er hatte das Werkzeug gesehen, mit dem Luz seinen Opfern die Kiefer ausrenkte. Hatte den Holzkeil gefunden, Rollen mit Eisendraht, unverwechselbare Fesselspuren an dem Stuhl mit dem geflochtenen Strohsitz bemerkt, die die Spurensicherung zweifellos Garcovich und Pileggi zuordnen würde. Auf der Ladefläche des alten Lieferwagens, der in der kleinen Garage neben der Wohnung parkte, hatte er dunkle Flecken, Blutspuren, entdeckt. Und im Handschuhfach hatte er eine Rolle Paketschnur und eine fleckige Nadel gefunden. Eine dicke Stopfadel, die das Fleisch eines Lehrers und eines Doktors durchstochen hatte.
    Doch er hatte sich nicht gefragt warum.
    Palermo hatte regungslos dagesessen, den Kopf in den Händen vergraben, und hatte keinen klaren Gedanken fassen können.
    »Es ist meine Schuld«, hatte er gesagt und war aufgestanden und hatte die dunkle Wohnung dort unten, unter der Erde, verlassen.
    Nun war alles sinnlos geworden.
    Amaldi, Frese und Max saßen im Wagen, der dort parkte, wo das Licht der einzigen Straßenlaterne auf dem Platz nicht hinfiel. Wieder war es Nacht. Vor ihnen erhob sich die Fassade des Hauses, in dem Richter Emilio Boiron wohnte. Zwei Beamte waren auf der Dachterrasse postiert, zwei weitere hatten vor Boirons Wohnung Aufstellung genommen.
    »Er wird kommen«, sagte Amaldi und merkte dann, dass er genauso hart und entschlossen geklungen hatte wie Palermo, als man die Jagd auf Primo Ramondi eröffnete.
    Er wusste, dass sie ihn erwarteten.
    Zu diesem Zeitpunkt konnte es gar nicht anders sein. Der Kreis würde, musste sich bald schließen.
    Das Leben, das Ferrante ihm geschenkt hatte, gehörte ihm nun nicht mehr. Er hatte es zwölf Jahre lang gelebt. Jetzt war die Stunde gekommen, wo er es ihm zurückgeben musste. Dieses Leben, dieses wundervolle Licht seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben musste. Dem einzigen Menschen, der ihn geliebt hatte.
    Er wusste, dass sie auf ihn warteten. Aber sie würden ihn erst dann fassen, wenn sich der Kreis geschlossen hatte. So, wie es sein sollte.
    »Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben … acht … und neun«, sagte er leise. Als gäbe es nichts darüber hinaus. Als enthielten diese neun kleinen Zahlen die ganze Welt. Wie ein Käfig mit neun Gitterstäben, neun Seiten und neun Schlössern.
    Er dachte an Ferrante, der ihn verlassen hatte. Weil er schmutzig war.
    »Zehn«, sagte er und zuckte zusammen. »Elf … zwölf … dreizehn …«, brachte er mühsam heraus, als würde er verbluten, während er älter wurde. »Vierzehn … fünfzehn … sechzehn«, während vor seinen Augen die Bilder jener Jahre aufstiegen, bei denen er so getan hatte, als seien sie ungelebt. »Siebzehn … achtzehn …« Dabei sah er den Tag vor sich, an dem er wie Primo aus dem Heim geflohen war, spürte die Hände dieser Fremden auf seinem Körper, an die er sich verkauft hatte, weil es das Einzige war, was er konnte. »Neunzehn …« Dabei erinnerte er sich an den Tag, als er ihn wiedererkannt und sein Herz einen Sprung gemacht hatte, Ferrante, seinen Ferrante, gealtert, ohne dieses Licht, der wie ein Schatten durch die Straßen der Altstadt lief, und er war nicht zu ihm gegangen, aus Angst, zurückgewiesen zu werden. »Zwanzig …«, zählte er, und blutete jene Jahre aus, in denen er sich versteckt hatte, während er sich an die Nacht erinnerte, in der er die dunklen Schwingen des Todes über den geliebten Schultern seines Ferrante hatte schweben sehen. In der er sich ihm offenbart hatte und dabei riskierte, falls es ihm nicht gelang, ihn zurückzuhalten, zum Mörder des einzigen Menschen zu werden, der ihn je geliebt hatte, des einzigen Menschen, den er hätte lieben können, ohne sich dabei schmutzig zu fühlen. »… und einundzwanzig«, endete er und hatte sich nun in den Mann verwandelt, der er eigentlich war. Er
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