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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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sich knapp mit der Begründung, sie müsse eiligst duschen, damit sie sich nicht erkältete. Am nächsten Tag in der Schule sah ich sie nur aus der Ferne. Sie winkte sie mir aus dem Pulk ihrer Freundinnen heraus zu, ich grüßte aus meinem Freunde-Pulk zurück, und das war es auch schon.
    Es dauerte zwei Wochen, bis mir wieder einfiel, was ich eigentlich im Hinterkopf gehabt hatte, als ich mit ihr den Weg einschlagen wollte: Ruinen suchen. Dort, wo das Schloss gewesen sein sollte, wucherte dichtes Unterholz. Im Spätsommer des Vorjahres bei meinem ersten Besuch, als ich schon mal nach Resten der Gebäude gesucht hatte, war vor lauter Blättern nichts zu erkennen gewesen, und im Herbst hatte das frisch gefallene Laub den Boden völlig zugedeckt. Nun, nach dem reinigenden Winter, bevor alles neu sprießen würde, wäre die einzige Chance, überhaupt etwas zu entdecken.
    Als mir das wieder einfiel, war es Anfang April, und die ersten Knospen sprangen auf. Ich zwackte eine Stunde vom Lernen ab und schwang mich aufs Fahrrad.
    Freilich führte mein Weg, nachdem ich das Rad neben dem Rastplatz am Weg auf den Ständer gestellt hatte, zunächst nicht zu den Ruinen, sondern zum Gästebuch. Viel war seit Mitte März nicht losgewesen: mehrere Male Stubenfeuer und Schmidt, eine Wandergruppe des Alpenvereins, lauter nichtssagende Floskeln und ein bisschen Gekritzel.
    Direkt unter meinem letzten Eintrag aber stand, wieder mit je einer Leerzeile zwischen mir und dem nächstfolgenden Text vom selben Tag, dem 17.3., und wieder mit Tinte oder Kugelschreiber blau hervorstechend unter all den Bleistift-Schriftzügen:
    „ Süß, die Kleine, zum Befallen süß. War natürlich klar, dass sie nicht mit hierher wollte, aber ich hätte Dir mehr Überredungskunst zugetraut. Was Deine lustvollen Träume betrifft, kann ich Dir versichern: Das wird schon noch. Aber auch dafür wird wieder ein Preis fällig werden!“
    Am 18.3. war ich mit Myriam joggen gewesen. Am 17.3. hatte ich selbst noch nicht gewusst, dass ich mich trauen würde, sie anzurufen.
    Ich starrte die Schrift an. Blaue, unförmige Buchstaben. Unstet. Krakenartig. Ich musste an das Ding in der Nische neben der Klotür denken. Seit jenem Tag hatte ich es nicht mehr gesehen. Nicht mehr sehen können, weil ich jedes Mal, wenn ich nachts das Zimmer verließ, vor dem Türöffnen das Licht in meinem Zimmer anmachte und dann sofort das Flurlicht. Das war mir in all den Nächten nie klar geworden.
    Unbewusst, instinktiv hatte ich meine Gewohnheit geändert, mich durch die dunklen Räume zu tasten. Ich war immer der Überzeugung gewesen, wenn ich Licht machte, konnte ich hinterher nicht mehr einschlafen. Aber ich konnte es. Und konnte sogar vergessen, dass ich Licht gemacht hatte, weil ich hoffte, damit das Ding zu vertreiben, das seitdem immer dagewesen war, jede Nacht in dieser Nische oder ganz tief in mir drin.
    Es packte mich eine Art mannhafter Trotz und besiegte den Wunsch, schleunigst hier zu verschwinden. Wenn schon irgendwelche blaue Dinger bei mir zu Hause lauerten, nur einen Raum neben meinem Bett, und wer weiß wie oft von mir Besitz ergriffen, dann mochte mir das Unheimliche hier, das sich in der quaddeligen Glibberschrift im Gästebuch bemerkbar machte, nichts anhaben. Ich ließ mich davon nicht hindern, ich doch nicht, jetzt endlich mal die Ruinen zu untersuchen!
    Mit stabilen Trekkingschuhen gerüstet, erklomm ich den Hügel oberhalb des Rastplatzes, auf dem das Schloss gethront haben sollte.
    Ein seltsamer Hügel war das. Ziemlich regelmäßig und gleichförmig ansteigend ging es zwei Meter bequem in die Höhe auf eine Art Freifläche, die von niedrigem Buschwerk bestanden war. Dahinter lag der eigentliche Hügel, eher schon ein monströser, wild überwucherter Berg, vielleicht 20, 25 Meter hoch an seinen höchsten Bestandteilen und übersehbar breit und tief. Das ganze Ding war derart unregelmäßig und verschachtelt, mit Einbuchtungen und Abstürzen durchsetzt und von Moos und altem Laub bedeckt, so dunkel-glitschig-feucht, dass ich nicht wusste, wo meinen Fuß hinsetzen, um da hinauf zu gelangen.
    Ich fand schließlich eine Art Weg, ein geschwungenes Spiralrund, an eine weitläufige halbkreisförmige Wendeltreppe erinnernd und bequem zu besteigen, wäre das Unterholz nicht gewesen, bahnte mir einen Pfad, erklomm einige Meter Höhe, erreichte einen weiteren plateauförmigen Absatz und sah hinab in das Durcheinander aus Felsen- und Steingewirr unter Baum- und
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