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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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ersten Blick sah es aus, als wolle der eine zustechen, während der andere sich verzweifelt dagegen wehrte. Die Gesichter aber sprachen für das Gegenteil. Sebastian wirkte verzweifelt, schien sich lösen zu wollen, zerrte seine Hand nach hinten, während sein Gegner ihn grimmig-entschlossen anstarrte, triumphierend wie vor dem entscheidenden Sieg, und die Dolchspitze mit aller Gewalt auf sich zuzog, um sie zwischen den eigenen Rippen zu versenken.
    Das Gesicht dieses Mannes, unter Einfluss meiner Vergiftung und meines Blutverlustes meinte ich, es wie ein Wechselbild sich von einem zum anderen verändern zu sehen, die Züge sprangen hin und her – von Wendelin Forberig, der nicht sterben wollte und mit seinem Sohn gegen das eindringende Messer kämpfte, hin zum Blauen Frosch, der Rache genommen hatte an Stubenfeuer und Stubenfeuerin, denn mich wähnte er sterbend, und der nun Sebastian bestrafen wollte, indem er ihn zwang, den eigenen Vater zu töten.
    Die blitzende Klinge wurde kürzer und kürzer, kürzer und kürzer, während Vater und Sohn auf die Knie sanken, kürzer und kürzer. Schatten umschwirrten mich. Mein Blickfeld veränderte sich, wanderte Richtung Gewölbedecke, wurde von Schwärze eingeengt, und die letzten Geräusche, die ich noch hörte, erstickten in Watte.
    Dann plötzlich war ich über mir. Meine Wahrnehmung wurde aus der Gruft gesogen, begab sich in Gemeinschaft anderer Menschenseelen aus dem Untergrund auf das überwucherte Ruinenfeld darüber und dann durch die Bäume in den Himmel hinauf. Auch Vera sah ich, Sebastians Eltern und Herrn Franz, was mich schockierte, denn die gehörten doch eigentlich nicht in diese Gemeinschaft davon strebender Seelen, genausowenig wie ich.
    Einer der anderen Schatten schimmerte bläulich. Er stieg nicht in den Himmel, sondern sank zurück zum Boden zwischen die Ruinen und blieb dort liegen.
    Er wird noch lange bleiben müssen, dachte ich mir. Er wird dort langsam und qualvoll eintrocknen und zerbröseln über Jahrhunderte hinweg, mindestens so lange, bis der letzte Stein der letzten Mauer des einstigen Schlosses zu Staub zerfallen sein wird.
     

    Aber das alles musste ich wohl geträumt haben.
    Noch in der Gruft auf dem Rücken liegend kam ich zu mir. Zwei junge Männer in weiß-orangefarbenen Uniformen knieten neben mir. Einer hatte einen Pferdeschwanz, und der war es auch, der mir inmitten uralter Mauern, Staub und Dreck eine blitzend neue Infusion legte.
    Sebastian, das erfuhr ich später, war auf Händen und Knien die Treppen hoch durch die Räume und Gewölbe zum Ausgang gekrochen, hatte sich durch das von Stubenfeuer und mir gesägte Loch in der Absperrung gequält, war weiter durch den Wald zum Weg gekrabbelt, den Weg entlang und so weit immer weiter, bis ihm in der Nähe der Stadt endlich Spaziergänger begegnet waren.
    Ich wurde auf eine Bahre geschnallt. Beim Hinausgetragenwerden schnappte ich auf, dass zwischen den neuen Särgen die beiden frischen Leichen, die auf den alten Knochen lagen, auf Tragen gebettet und zum Abtransport bereit gemacht wurden. Die am Boden weiter schwelenden Fackeln, die Sebastian und sein Vater fallengelassen hatten, wurden ausgetreten.
    Vera, Sebastians Mutter und Herr Franz standen da und starrten ins Leere. Jemand versuchte vergeblich, ihnen ihre Fackeln und Dolche zu entwinden. Schließlich warf man feuerfeste Decken über die ausgestreckt hoch gehaltenen Fackeln und erstickte damit die Flammen.
    Sebastians Abschlussbericht
     

    Es gibt keine mildernden Umstände für Vatermord unter Einfluss von Besessenheit, und da ich mich weigerte, meinen Zustand als Form von Geisteskrankheit zu meinen Gunsten auszulegen, verbrachte ich die letzten 13 Jahre im Gefängnis. Es dauerte weitere Jahre, bis ich so weit war, die vier Berichte, die Clarissa für mich aufgehoben hatte, aufzuschlagen und meinen Frieden mit den Ereignissen zu machen.
    Clarissa hatte sich vor Gericht heftig für mich eingesetzt, aber genutzt hatte es gar nichts. Experten der Anklage hatten bescheinigt, das Gift habe die gleiche Wirkung auf ihre Wahrnehmung gehabt wie ein Drogencocktail, ihre Aussage sei daher wertlos.
    Zwei Männer tot, zwei Frauen und ein Mann stehend im Wachkoma, eine weitere Frau mit einem vergifteten Messer im Bauch im Sterben liegend und in letzter Sekunde gerettet – wer blieb da als Täter anderes übrig als der junge Kerl, den man blutbesudelt aufgegriffen hatte, auf allen Vieren auf der Flucht durch den Wald, die Taschen voll mit
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