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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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voll?“
    Er spuckte schräg neben mir aus und schüttelte ärgerlich den Kopf.
    „ Nein, Sie zuerst. Das ist immerhin Ihre Aktion hier.“
    „ Schon gut.“ Und mehr zu mir selbst murmelte ich: „Noch vor drei Stunden, als ich das erste Mal hier war, hätte ich nie geglaubt, da runterzusteigen.“
    „ Was soll das dann?“
    „ Da unten ist noch was.“
    „ Wie, noch was?“
    „ Ich habe viel darüber gelesen von Leuten die unten waren, aber ich bin mir sicher, sie haben nicht alles geschrieben und zum Teil auch bewusst gelogen. Sie, mein Freund, wollen den Familienfluch loswerden, ich will meine Tochter aus der Sache rausholen. Beides hängt zusammen, und die Antwort liegt da unten. Also müssen wir da rein.“
    „ Das kann sein, aber Sie zuerst!“
     

    Es war alles so, wie Vera und Sebastian es beschrieben hatten. Stubenfeuer stand noch lange da oben, als ich schon in den beiden ersten Räumen herum leuchtete. Er war drauf und dran, zu verschwinden, aber brachte es nicht fertig, mich allein zu lassen, trotz aller Abneigung. So funktionieren menschliche Verhaltensmuster eben, und so folgte er mir unter einer Menge Stöhnen, Ächzen und sonstiger übertriebener Schmerzenslaute.
    Sein Gejammer hörte schlagartig auf, als wir in die große Halle kamen. Auch ich war überrascht über die Ähnlichkeit.
    „ Das ist ja hier wirklich wie bei mir“, rief er, und seine Stimme hallte seltsam dumpf. „Un-, also wirklich, un-glaub-lich!“
    „ Ja, toll, deine komische Vorfahrenschaft hat es fertiggebracht, eine Schlosshalle nachzubauen. Krieg dich wieder ein.“
    „ Es würde niemand merken, wenn ich dir hier unten den Kragen umdrehe, du hässliche alte Hexe“, knurrte er.
    „ Oder umgekehrt, Arschloch.“
    Es war so selbstverständlich, auf diese Weise miteinander umzugehen. Wie bei einem alten Ehepaar – dem alten, sich hassenden Ehepaar, das wir waren. Ich wusste aus den Berichten, wie die Räume hier unten die Besucher veränderten, und doch war es für mich nicht das geringste Alarmzeichen, jetzt genau das zu erleben. Es war wie müde werden nach einem langen Tag, passierte einfach und tat so wohl. Die Folge war einschlafen. Gut so.
    Die Folge war träumen. Und Dinge tun, die man in Träumen tut, aber niemals in Wirklichkeit.
    Wir träumten, wir stiegen viele Treppen hinab. Da war ein Anflug von Erinnerung daran, wie wir damals den Blauen Frosch hier herunter geschleift hatten, und der olle Stubenfeuer neben mir erinnerte sich auch.
    Ich war gespannt, die Holzkiste nach all den Jahrhunderten wiederzusehen, in die wir ihn, verknautscht wie er war, blutend und blau, nackt und ohne Beiwerk abgepackt hatten wie eine tote Sau, und dann den Deckel drauf und zugenagelt. Sein Geist sah uns dabei zu, und sein Entsetzen war uns Genugtuung nach seinem hinausgezögerten Verrecken. Drei Jahre hatten wir den Stinker am Hals gehabt, drei Jahre, bis endlich alles uns gehörte.
     

    Ich hatte mit Überraschungen gerechnet – mit Details, die in den Berichten unterschlagen worden waren, um die Falle zu tarnen. Letztlich war es dann nur eine einzige Überraschung, die man uns bereitete, aber die hatte es in sich.
    Wir sahen sie auf den ersten Blick, die beiden Skelette, trotz der rauchschwarzen, pappigen Dunkelheit hier unten in der Gruft. Sie lagen hingestreckt auf verkokelten Kleiderfetzen am Boden zwischen den Steinsarkophagen der vier willig gestorbenen Giftopfer und der Holzkiste des widerspenstigen Frosches.
    Was mich aber mehr erschreckte, weit mehr als alte Knochen, Sarkophage, die modrige Luft hier unten und die kerkergleichen Mauern, das waren die beiden nagelneuen, unbenutzten Särge neben den Skeletten. Die obere Hälfte der Sargdeckel war jeweils geöffnet, weiße Seidenkissen schimmerten matt im Licht unserer Taschenlampen. Zwischen den Särgen stand ein Tischchen aus Holz, darauf eine Karaffe mit einer öligen Flüssigkeit und zwei Becher.
    Ich hätte weglaufen wollen nach hinten, hätten meine Beine sich nicht wie von selbst nach vorne bewegt, in Richtung der Skelette. Sie gingen in die Knie, meine Beine, mein rechter Arm streckte sich aus, meine rechte Hand pickte sich ein Fingerknöchelchen der weiblichen Leiche aus dem Gewölle der verkohlten Kleiderreste, und Stubenfeuer neben mir holte sich einen Knochen der männlichen Leiche.
    In simultanen Bewegungen steckten wir die leichten, porösen Menschenknochen in unsere Hosentaschen und wandten uns dem Eingang der Gruft zu, lauschten dem Getrampel, das sich
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