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Infam

Infam

Titel: Infam
Autoren: K Ablow
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Lymphblockade infolge eines Tumors? Sarkoidose? Ich hab sogar überlegt, ob es irgendeine merkwürdige Erscheinungsform von Aids sein könnte. Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, was es wirklich war.«
    Über die folgenden Monate wies Slattery Lilly viermal ins Mass General ein, behandelte sie mit einem Dutzend verschiedener Fungizide und Antibiotika. Einige schienen zu wirken, senkten die Zahl ihrer weißen Blutkörperchen und hielten den Schüttelfrost und das Fieber in Zaum, unter denen sie litt. Aber jedes Mal tauchte sie schon wenige Tage danach wieder in der Notaufnahme auf, abermals infiziert und fiebernd.
    Eine Computer-Tomographie ihres Beines zeigte keinen Tumor. Ein Skelettszintigramm offenbarte keine Knochenhautentzündung. Wiederholte Blutkulturen konnten keine bösartigen Bakterien nachweisen. Also veranlasste Slattery schließlich eine Biopsie des Semitendinosus- und des Schenkelmuskels in Lillys Bein und schickte die Gewebeproben zum bakteriologischen Labor der Zentralstelle für Infektionskrankheiten in Bethesda, Maryland. Das Ergebnis kam eine Woche später zurück:
Pseudomonas fluorescens,
ein Krankheitserreger, der gemeinhin in Erde gefunden wurde.
    »Wir haben zuerst ihrem Mann die Neuigkeit überbracht«, hatte Slattery mir erzählt. »Er brach zusammen und gestand, er hätte ganz hinten in ihrer Schublade eine schlammverkrustete Spritze gefunden. Eingewickelt in einen ihrer Slips.«
    Allein beim Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut.
    »Wir reißen uns hier den Hintern auf, um zu verhindern, dass diese Irre ihr Bein verliert«, fuhr Slattery fort, »und dann stellt sich heraus, dass sie sich eigenhändig Dreck injiziert hat.«
    »Das könnte uns einiges darüber sagen, wie sie sich selbst sieht«, bemerkte ich.
    »Dir vielleicht. Mir sagt es, dass sie nichts in einem Krankenhaus zu suchen hat. Sie stiehlt – meine Zeit, von den Mitteln des Krankenhauses ganz zu schweigen.«
    »Ich gehe jede Wette ein, dass es bei diesem Fall grundsätzlich ums Stehlen geht. Aber der Schlüssel ist, herauszufinden, was
ihr
gestohlen wurde.«
    »Du bist hier der Poet«, hatte Slattery trocken erwidert. »Deshalb hab ich dich ja dazugeholt.«
    Ich betrachtete Lilly, wie sie dort im Bett lag, das Gesicht noch immer zur Wand gedreht. Der Fachausdruck für ihre Erkrankung lautete »Münchhausen-Syndrom«: das absichtliche Hervorrufen von physischen Symptomen, um die Aufmerksamkeit von Ärzten auf sich zu lenken. Der Name leitet sich von Karl Freiherr von Münchhausen, dem berüchtigten »Lügenbaron«, ab. Studien haben gezeigt, dass ein hoher Prozentsatz von Patienten mit dieser Störung im Gesundheitswesen arbeitet – wie Lilly.
    Viele Patienten mit Münchhausen-Syndrom haben darüber hinaus in ihrer Kindheit einige Zeit im Krankenhaus verbracht. Eine Theorie besagt, dass sie zu Hause schwerem Missbrauch ausgesetzt waren und die Freundlichkeit der Ärzte als so wohltuend empfanden, dass sie als Folge daraus anfingen, Kranksein mit Geborgenheit gleichzusetzen. Als Erwachsene werden sie regelrecht süchtig danach, in die Rolle des Kranken zu schlüpfen, um ihren unterschwelligen emotionalen Schmerz zu betäuben und traumatische Erinnerungen zu unterdrücken – in der gleichen Weise, wie Drogensüchtige Heroin benutzen.
    Um Münchhausen zu behandeln, muss der Psychiater den Patienten an den Punkt bringen, wo er bereit ist, sich dem ursprünglichen Trauma zu stellen, das er oder sie verdrängt. Das mag einfach klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Menschen mit Münchhausen entziehen sich in der Regel der Behandlung, um zu verhindern, dass den tiefer liegenden Problemen auf den Grund gegangen wird.
    Lilly zu dem Geständnis zu zwingen, dass sie die Infektion selbst herbeigeführt hatte, würde sie nur verschrecken. Das Wichtigste war, sie wissen zu lassen, dass ich verstand, dass sie tatsächlich infiziert
war.
Nur einer der Erreger war in Erde zu finden. Der andere – weit giftiger und zerstörerischer – war in den dunklen Winkeln ihres Unterbewusstseins verborgen.
    Ich zog einen Sessel ans Bett und setzte mich. »Niemand bezweifelt, dass Sie krank sind«, sagte ich. »Am allerwenigsten Dr. Slattery. Er meinte, die Infektion sei sehr ernst.«
    Lilly rührte sich nicht.
    Ich beschloss, sie damit zu ködern, dass ich die professionelle Distanz zwischen uns verringerte und ihr ein wenig von der ärztlichen Wärme anbot, nach der sie sich so sehnte. Ich streckte meine Hand aus und berührte die schwarzen
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