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Infam

Infam

Titel: Infam
Autoren: K Ablow
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Linien, die der Chirurg auf ihren Schenkel gezeichnet hatte. »Stress schwächt das Immunsystem. Das ist eine Tatsache.«
    Noch immer keine Reaktion.
    Ich ließ meine Hand zu Lillys Hüfte gleiten. »Eigentlich sollten Sie als Krankenschwester dem doch zustimmen, oder?«
    Sie drehte sich auf den Rücken, und ich zog meine Hand zurück. »Es tut mir Leid, dass ich Sie so angefahren habe«, sagte sie und starrte an die Decke. »Ich bin mit den Nerven am Ende. Hier spaziert ein Arzt nach dem anderen herein. Ich werde mit einem Medikament nach dem anderen voll gepumpt. Zwischen den Aufenthalten hier war ich keine fünf Tage am Stück zu Hause.« Sie seufzte tief. »Nicht gerade das, was man verlängerte Flitterwochen nennt.«
    »Sie sind frisch verheiratet«, sagte ich. »Das habe ich in Ihrem Krankenblatt gelesen.«
    »Ich vermute, mein Leben ist ein offenes Buch«, konterte sie.
    »Mein Eindruck ist eher, dass es kaum ein Buch gibt, das weniger offen ist als Sie.«
    Sie sah mich an.
    »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte ich.
    »Vier Monate.«
    »Und ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«
    Ihre Miene wurde schlagartig abweisend, vielleicht, weil ich zu distanziert geklungen hatte, zu analytisch, zu sehr wie der Psychiater, der gekommen war, um eine Diagnose zu stellen.
    Ich bot ihr eine weitere Annäherung in der Arzt-Patient-Beziehung an. »Ich habe das mit der Ehe selbst nie ausprobiert.«
    »Nein?«
    »Ich war einmal verlobt. Es ist nichts daraus geworden.«
    »Was ist passiert?«
    Kathy erschien vor meinem geistigen Auge, so wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte, in ihrem Zimmer in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie im Austin Grate Hospital. »Sie war krank«, sagte ich. »Ich habe versucht, gleichzeitig ihr Ehemann und ihr Arzt zu sein. Ich habe beides vermasselt.«
    »Das tut mir Leid«, sagte sie.
    »Mir auch.«
    Lilly entspannte sich sichtlich. »Paul ist der absolute Traum. Er ist so verständnisvoll. In allem.«
    »In allem …«
    Sie errötete wie ein Backfisch. »Wir hatten nicht viel Zeit, um … Sie wissen schon.«
    Ich zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf, obgleich ich genau wusste, was sie meinte.
    »Nun, Zeit, um …« Sie kicherte. »… Flitterwöchner zu sein.«
    »Hatten Sie denn überhaupt Zeit dafür?«
    »Das Problem mit meinem Bein fing gleich nach unserer Abreise nach St. Bart’s an. Wir mussten sogar früher zurückfliegen.«
    »Aber er hatte Verständnis?«
    »Er hat mich nie bedrängt«, erklärte sie. »Er ist ein sehr geduldiger Mann. In dieser Hinsicht erinnert er mich an meinen Großvater. Ich schätze, das ist auch der Grund, weshalb ich mich in ihn verliebt habe.«
    Manchmal spricht eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, während ich mit Patienten rede. Es ist meine eigene Stimme, doch sie entstammt einem Teil von mir, über den ich keine völlige Kontrolle habe – einem Teil, der zwischen den Zeilen lauscht, selbst meinen eigenen, und dann das Unausgesprochene in meinem Kopf abspielt.
»Sex, Schmerz, Großvater. Wenn der Liebesakt sich genauso anfühlt, als würde man sich Schmutz injizieren, dann bricht man die Flitterwochen ab und fährt schnurstracks ins Krankenhaus.«
    »Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich und überließ ihr die Entscheidung, über welchen der beiden Männer sie reden wollte.
    »Großvater?«
    Ich lächelte nur.
    »Er ist gelassen und stark. Sehr verlässlich.« Sie machte eine kurze Pause. »Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Meine Mutter und ich sind zu meinen Großeltern gezogen.«
    »Leben sie noch?«
    »Gott sei Dank«, sagte sie.
    »Wissen sie über Ihr Problem Bescheid?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es niemandem in meiner Familie erzählt.«
    »Nicht einmal Ihrer Mutter?«
    »Nein.«
    Ich hatte das Gefühl, einen Zugang zu Lillys Psyche gefunden zu haben. Ich konnte die Infektion in ihrem Bein als eine Metapher für ihr Kindheitstrauma benutzen. »Ein Geheimnis zu hüten – besonders ein so großes – kann den Stress, unter dem Sie stehen, verstärken«, sagte ich.
    »Meine Großeltern sind inzwischen sehr alt. Und meine Mutter hat ihre eigenen Sorgen. Ich will sie alle nicht damit belasten.«
    »Aber Sie liegen ihnen am Herzen, und Sie leiden Schmerzen.«
    »Ich werde schon damit fertig«, erklärte sie.
    »Nachdem du deinen Vater verloren hattest«,
sagte die Stimme in meinem Hinterkopf,
»wolltest du nicht riskieren, deinen Großvater auch noch zu verlieren, egal, welchen Preis du
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