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Indigosommer

Indigosommer

Titel: Indigosommer
Autoren: Antje Babendererde
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dem Gesicht und öffnet die Augen. Die rote Sonne versinkt im Spalt zwischen James Island und Little James Island. Die Wellen glitzern kupferfarben, das Meer ist ruhig.
    Auf einmal hört Conrad Robbenschreie. Er rutscht nach vorn an den Rand der Klippe und schaut nach unten. Da ist sie wieder, die Robbe, der Einzelgänger.
    »Justin?«, flüstert Conrad und starrt auf die Wasseroberfläche, als erwarte er, seinen Zwillingsbruder aus dem Ozean steigen zu sehen. Nass, tropfend, aber lebendig. Heraufbeschworen aus der Tiefe.
    »Das Lied der Wellen ist meine Stimme. Hörst du mich?«
    Wird er jetzt verrückt? Ist das wirklich Justin in Gestalt einer Robbe, der zu ihm spricht? Oder ist die Stimme in seinem Kopf? Vielleicht ist es auch nur das Branden der Wellen an den Klippen, das ihm einen Streich spielt.
    Conrad schiebt seine Beine über den Abgrund. »Es tut mir leid, dass ich dich nicht aufhalten konnte«, sagt er.
    »Hey, ich habe diese Welle geritten, weil ich es wollte. Ich wollte es mir beweisen, niemandem sonst.« Das ist Justins Stimme und auch seine eigene. Der Bruder wird immer ein Teil von ihm sein.
    »Ich weiß. Das habe ich immer gewusst.« Conrad wird klar, dass er Selbstgespräche führt. »Verlass mich nicht«, flüstert er. »Ich bin dein Bruder, das Meer, ich kann dich gar nicht verlassen. Ich werde immer hier sein. Aber du, du musst jetzt gehen.«
    »Wohin?«, fragt Conrad das Meer.
    »Deinen eigenen Weg.«
    Die Robbe verschwindet in den Wellen und taucht wieder auf, sie tummelt sich vergnügt und stößt kleine Robbenschreie aus. Ihr nasses Fell glänzt in der untergehenden Sonne. Conrad sieht ihr noch eine ganze Weile lächelnd zu. Die Stimme seines Bruders ist verstummt, von nun an hört er nur noch seine eigene.

25. Kapitel
    A n einem Samstag Anfang September saß ich an der Waterfront in einem Café und wartete auf Janice. Wir waren verabredet, weil sie zu einer Hochzeit eingeladen war und ich ihr beim Aussuchen eines passenden Kleides helfen sollte. Es war ein für Seattle ungewöhnlich warmer und klarer Septembertag und ich hielt das Gesicht in die Sonne, um die vielleicht letzten Sonnenstrahlen einzufangen.
    Wie immer hier unten am Wasser war die Luft erfüllt vom Geschrei der Möwen, die auf den Dächern und Brüstungen der Freiluftrestaurants saßen und auf Leckerbissen hofften. Ende August war es merklich ruhiger geworden im sonst so belebten Hafenviertel. Die Touristen blieben aus, die Einheimischen hatten die Waterfront zurückerobert.
    Inzwischen hatte ich meine erste Schulwoche auf der Ballard High hinter mich gebracht und bekam langsam das Gefühl, dass Normalität einkehrte. Die ersten Tage nach unserer Rückkehr aus La Push waren furchtbar gewesen. Die langen Telefongespräche mit meinen Eltern, die sich sorgten, ob mit mir auch wirklich alles in Ordnung war. Anfangs fürchtete ich, sie würden mich zurück nach Deutschland holen. Immer wieder musste ich ihnen versichern, dass es mir gut ging und ich mich auf die Schule freuen würde.
    Dann war da Joshs Beerdigung an einem schrecklich verregneten Sonntag. Sein beinahe regloser Vater an der Seite seiner neuen Freundin und Joshs kleine verhutzelte Oma, die furchtbar weinte. Ihr Anblick brach mir das Herz. Es standen viele junge Leute an Joshs Grab, Collegestudenten, die ihn gekannt hatten. Ich merkte, dass einige ab und zu verstohlen zu mir herüberblickten und die Köpfe zusammensteckten. Wer weiß, was Alec ihnen über Josh und mich erzählt hatte.
    Alec ging mir aus dem Weg und seine kühle Reserviertheit machte mir zu schaffen. Zumindest seinen Eltern gegenüber hatte er nichts von mir und Conrad verlauten lassen, was ich ihm hoch anrechnete. Doch einen Monat nach Joshs Beerdigung hatte ich immer noch das Gefühl, dass er mich mied.
    Alec wusste, dass Conrad nicht für Joshs Tod verantwortlich war. Aber sein Zorn erstreckte sich auf ganz La Push und seine Ureinwohner, einfach, weil er einen Schuldigen für den Tod seines Freundes brauchte – so wie Conrad damals einen Schuldigen für den Tod seines Bruders gebraucht hatte.
    Ich verbrachte Zeit mit Janice und ihr hatte ich letztendlich auch alles über mich und Conrad erzählt. Vielleicht war sie nicht die Freundin, die ich mir jetzt gewünscht hätte, aber sie war mit in La Push gewesen und ich brauchte jemanden, mit dem ich über all das, was passiert war, reden konnte.
    Brandee war immer noch in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Ihr Pilztrip hatte eine schizophrene
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