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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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Kaffeestuben, Obststände und Kramläden.
    Ich komme mir vor wie in einem Italowestern, wie ein Gringo, der in eine mexikanische Kleinstadt hineinreitet, ein unrasierter Ausländer auf der Suche nach Schnaps und leichten Damen. Die Mädchen, die am Brunnen ihre bunten Plastikkrüge in der bauchigen Form der traditionellen Tongefäße füllen, tuscheln, als sie mich bemerken. Zwei Jungen in kurzen Hosen halten fast simultan bei dem Versuch inne, mit Steinwürfen Fliegende Hunde von ihrem Tagschlaf in einem Alleebaum aufzuschrecken.
    Und überall ist Jesus. Freundlich lächelt er mir von der anglikanischen Kirche zu, vor der Bauarbeiter ein Gerüst aus Bambusstangen errichten, gnädig breitet er die Arme über dem methodistischen und über dem römisch-katholischen Gotteshaus aus.
    Dessen Hof wirkt wie eine überdimensionale, makellos gepflegte Sandkiste. Die knallrosa gestrichene Kirche erhebt sich aus einem Meer feiner, gelber Körner. Ich bin neugierig. Ich weiß, wie sehr radikale Hindus die Christen in den vergangenen Jahren bedrängt haben. Und bin erstaunt, wie stark die Orte hier auf der Südspitze christlich geprägt sind.
    In einem Nebengebäude entdecke ich an einem Schreibtisch einen kleinen, korpulenten Mann in einem marineblauen Wickelrock. Er blickt von seinen Akten auf und bittet mich herein. Er stellt sich als Pater Segari vor. Seine dichten Haare sind mit Pomade zurückgekämmt. Das Hemd ist offen, auf der behaarten Brust prangt eine goldene Halskette. Auf dem Hamburger Kiez würde ich ihn als altmodischen Luden einordnen. Wenn das klassische orientalische Beinkleid nicht wäre.
    Segari bittet mich an seinen Schreibtisch. Er ruft in einen Nebenraum hinein. Kurz darauf erscheint eine hagere Hausangestellte mit weißem Kopftuch. Sie stellt ein Tablett mit Keksen, Bananen und einer Thermoskanne auf den Schreibtisch. Er schenkt heißes Wasser in unsere Plastikbecher, reicht mir eine Dose Ovomaltinepulver und erzählt mit einem Bass wie ein Reibeisen. Von Apostel Thomas, der kurz nach Jesu Tod nach Indien gekommen sei. Der in Chennai ermordet wurde. »Von einem Hindu. Mit dem Speer.« Vom Heiligen Franz Xaver, der mit dem Schiff aus Spanien kam. Vom Verhältnis der Thomaschristen zum Papst, von der jesuitischen Asienmission, die im 16. Jahrhundert in Goa begann. Krachend beißt er zwischendurch in Kekse und spült mit Muckefuck nach. »Die Bauern und Fischer wollten raus aus dem Kastensystem. Sie wollten sich nicht mehr unterdrücken lassen von den Hindus«, sagt Segari. »Heute sind fast die Hälfte der Bewohner im Distrikt Kanyakumari Christen.«
    Mein Blick wandert von der unverputzten Wand, an der ein Bild des Abendmahls neben einer stehen gebliebenen Wanduhr in imitiertem Goldrand hängt, durch das schmale Fenster in den Innenhof. Ein kurzhaariger Junge hockt mit einer Fibel an der Außenmauer und macht mit rhythmisch wippendem Oberkörper Leseübungen. Er erinnert mich an einen Koranschüler. Nichts hier wirkt vertraut für einen Europäer, dem noch dazu das Christentum fremd geworden ist. Ich fühle mich doppelt fremd.
    »Die Inder sind sehr empfänglich für alle Arten von Religion. Sie sind sehr emotional, das hat es leicht gemacht, sie zu bekehren«, sagt Segari und verscheucht eine Fliege von der Öffnung der Zuckerdose. Aber diese Zeiten seien lange vorbei. »Missionieren kann hier keiner mehr. Heute werden die Christen drangsaliert.« Segari schreitet zu einem metallenen
Aktenschrank und kramt eine Mappe hervor. Er durchwühlt mit knorpeligen Fingern ein vierseitiges Dokument. In gedrucktem Tamil steht auf dünnen, von den Lettern der Schreibmaschine vielfach durchstoßenen Papierseiten: »Ich wurde nicht gezwungen, Christ zu werden. Niemand hat mich dafür bezahlt. Ich habe verstanden, dass Jesus der Erlöser ist.« Neben dem Namen des Konvertiten prangen Unterschrift und Stempel eines lokalen Notars. »Heute ist die Taufe ein komplizierter bürokratischer Akt. Es gibt jetzt ein Gesetz gegen etwas, das forcierter Übertritt zum Christentum genannt wird. Aber keiner weiß genau, was das bedeutet. Deshalb muss jeder, den wir taufen, vorher diese Papiere unterschreiben.«
    Ich frage den Pater, ob er Angst hat, dass Hindufanatiker ihn ermorden oder die Häuser seiner Gemeinde abfackeln könnten wie es jedes Jahr zu Weihnachten im Norden des Landes geschieht.
    »Nein, nein«, sagt er. »Nordindien ist weit weg. Ein anderes Land, genau genommen: ein anderer Kontinent. Im Süden passiert so etwas
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