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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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nicht. Unsere Gemeinden sind zu groß.«
    Der Priester führt mich ins Gästezimmer, ein schlichter Raum mit hoher Decke und vergitterten Fenstern. Ich höre die Hausdienerin, die im Kirchhof leise summend Geschirr abwäscht, und stelle fest, dass meine Oberschenkel aufgeschürft sind. Zwei rote, entzündete Stellen bilden sich auf der Innenseite. Ich creme sie ein und strecke mich erschöpft auf einer der beiden Metallliegen aus.
    Ich frage mich, ob ich mit meiner Art zu reisen nicht zu hohe Ansprüche an mich selbst gestellt habe. Ob es ohne den Rückzug auf ein wenig Luxus nicht eigentlich unmöglich ist, in den Tropen unterwegs zu sein.
    Ich falle in einen Halbschlaf. Ich stelle mir vor, wie eine Karawane durch einen weglosen, von Schlammlöchern durchsetzten Dschungel trampelt: zwei Dutzend indische Soldaten mit Vorderladern, mehr als vierzig Träger, Boten, ein Schreiner, ein Schmied und sonstige Angestellte sowie mehrere Ochsenkarren. Fast zweihundert Jahre vor mir zieht der Tross der britischen Vermesser hier entlang, die ersten Europäer auf dieser Route, der Great Trigonometrical Survey. Auf einem Karren ist der sogenannte Theodolit verschnürt, ein traktorgroßes, halb tonnenschweres Winkelmessinstrument bestehend aus einem Zielfernrohr, zwei Teilkreisen und mehreren mit Flüssigkeit gefüllten Hohlkörpern. Mit ihm peilen die Vermesser im Dienste der Krone von je zwei Punkten, deren Distanz zueinander bekannt ist, einen dritten an, um dessen Position zu bestimmen. Außerdem stapelt sich auf den Ochsenkarren Material zur Einrichtung von Vermessungspunkten und Observatorien.
    Als die Vermesser 1802 mit der Feldarbeit beginnen, wird ihnen eine recht bescheidene Ausrüstung zugestanden: »1 großes Zelt, 2 private, 1 für die Bedürfnisse, 1 Observatorium«, heißt es in den Aufzeichnungen. In dem großen Zelt bringt William Lambton Büro und Bett unter, in den beiden weiteren Zelten sein Gepäck. Das Zelt für die »Bedürfnisse« ist nicht unwichtig für nächtliche Sitzungen, denn unter den Mitarbeitern des Survey grassiert die bis heute bei Indienreisenden gefürchtete Ruhr. Für Lambtons Mannschaft ist keine mobile Behausung vorgesehen. Sie lagert vermutlich unter freiem Himmel oder in selbst gebauten Provisorien.
    Bei der Vermessung des oft schwierigen Geländes in den heutigen Bundesstaaten Tamil Nadu und Karnataka bedient sich der Great Trigonometrical Survey oft jener fast unwirklich erscheinender Felsformationen, die vielfach unvermittelt
aus der tropischen Ebene ragen. Einige von ihnen sind so groß, dass sie sogar Platz für Festungen oder Tempel bieten.
    In meinem Tagtraum klettert die Karawane einen Fels hinauf, der einsam aus dem dichten Blätterdach ragt. Hoch oben sind die Umrisse einer Burg zu sehen. Doch in einer Serpentine knapp unterhalb des Gipfels steht der Expedition plötzlich ein Haufen Einheimischer gegenüber. Die Männer tragen Luntenschlossmusketen, Schwerter und Dolche. »Verschwindet !«, faucht ein Kerl mit schulterlangen Haaren. »Ihr wollt die Fahne der Eroberer auf dem Palast des Prinzen hissen. Ihr späht mit euren Geräten seinen Frauen hinterher. In euren Zaubergläsern stellt ihr die Welt auf den Kopf, und unsere Brunnen laufen aus.« Seine Truppe johlt, die Schwerter blitzen durch das Sonnenlicht. Ein Sergeant der Expedition brüllt Befehle. Seine Soldaten gehen in Kampfstellung.
    Da ergreift ein listig blickender Brite mit Halbglatze das Wort. William Lambton ist, ganz im Gegensatz zu seinem Nachfolger George Everest, bekannt für seine Toleranz gegenüber den Indern. Fast bis zum Boden verbeugt er sich vor den einheimischen Kämpfern. »Gebt uns eine Fahne des Prinzen«, sagt er mit ruhiger Stimme. »Es spielt keine Rolle, mit wessen Banner wir unsere Position markieren.«
     
    Die Stimme eines Predigers reißt mich aus dem Traum. Pater Segaris Bass dringt mahnend an meine Schlafstatt. Dann erklingt vielstimmiger Soprangesang aus der Kirche, angetrieben von einem satten Rumba-Beat. Ich blicke aus dem Fenster. Es ist Abend geworden. Der Kirchhof liegt in weißem Neonlicht. Frauen in bunten Festagssaris und Männer in gestärkten weißen Hemden werfen sich das Kreuz schlagend in den Sand. Junge Männer in Fransenjeans und Cowboyhemd begrüßen sich mit Handschlag reihum. Ein kleines
Mädchen rennt einem fliehenden roten Luftballon hinterher. Mit nackten Füßen stapfe ich durch den weichen Sand. Das Gotteshaus ist zum Bersten gefüllt. Zu Hunderten hockt die Gemeinde
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