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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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auf dem Steinboden vor einem drei Meter hohen, rhythmisch blinkenden Glühbirnenkreuz. Unter der Decke flattern bunte Girlandenreihen. Hinter dem Altar wiegt ein traurig blickender Sankt Joseph, der Namensgeber der Kirche, das Jesuskind auf dem Arm. Ein Messdiener weist mir einen Plastikstuhl zu. Durch die wandhohen, offenen Türen weht ein frischer Wind.
    Segari hebt die Stimme zur Predigt. Das einzige Wort, das ich verstehe, ist »Gott«. Neben Segari haben drei weitere Priester Platz genommen. Ein vollbärtiger, untersetzter Pater gähnt ausgiebig, dann nickt er ein. Der Chor preist zu karibischen Rhythmen den Allmächtigen und dankt ihm für die Ernte. Mein Blick folgt zwei Schwalben, die zwischen den abgestellten Ventilatoren hindurchsegeln. In der Weihnachtskrippe entdecke ich eine Windmühle, die schief über dem pausbackigen Jesuskind thront.
    Als der Messdiener in glitzerndem Kunststoffgewand durch die Reihen läuft und Weihwasser aus einem gelben Plastikeimer über die Gläubigen spritzt, spüre ich, wie ich rot werde. Ich habe Angst, dass er mir näher kommt. Dass ich mich sträuben könnte, ein Kreuz zu schlagen, und die Gläubigen vor den Kopf stoße. Aber kurz vor meiner Sitzreihe dreht der Junge mit dem Eimer ab.
    Segari verpasst seinem dösenden Kollegen einen kräftigen Stoß in die Seite, die vier Geistlichen stehen auf und schreiten in den Kirchhof. Draußen im Neonlicht mühen sich drei Helfer in blauen Overalls, einen Dieselgenerator in Gang zu setzen, der auf einem Holzkarren steht. Unter lautem Johlen ziehen sie immer wieder das Startkabel. Aber vergeblich: Der
Schrein von St. Joseph leuchtet schließlich nur im schwachen Licht der Öllampen.
    Die Gläubigen häufen Berge von Blumenketten zu Füßen des holzgeschnitzten Heiligen auf. Vier Burschen schultern den Schrein wie eine Sänfte und tragen ihn, Pater Segari folgend und der singenden Gemeinde voraus, einmal um das Gotteshaus. Die Prozession erinnert mich an den Umzug mit einer hinduistischen Dorfgottheit. Ein vertrauter Anblick, ein religiöser Archetypus auf den Straßen und Gassen Indiens.
    Nach der Messe sitze ich mit den vier Priestern und einem jungen Paar mit Kind zu Tisch. In der Küche von Pater Segari serviert die Dienerin knorpelige Schweinefleischspezialitäten. Die Priester setzen mir die Liturgie auseinander, als würde ich wenigstens ein katholisches Grundwissen haben. Aber ich bin ein typischer Fall von europäischem Gottesflüchtling; seit der Konfirmation habe ich höchstens zu Weihnachten und zu Begräbnissen eine Kirche von innen gesehen. Mit dem christlichen Weltbild kann ich nichts anfangen, weder mit einem Gott, der im Himmel wohnt, noch mit Himmel und Hölle. Meine Gastgeber halten mich für einen Bruder im Geiste. Aber ich fühle mich plötzlich wie ein Eindringling.

O-Beine
    Am zweiten Tag meiner Wanderung verlaufe ich mich. Auf Nebenstrecken will ich in zwei Tagestouren mein erstes Etappenziel erreichen, die Provinzhauptstadt Tirunelveli, 66 Kilometer entfernt. Aber beim Start am Ortsausgang von Panagudi schlage ich den falschen Weg ein. Und lande wieder auf dem National Highway 7. Um vier Uhr früh bin ich aufgestanden. Aber als ich mich endlich auf der richtigen Landstraße in den dünnen Verkehr aus Radfahrern und Lkw einordne, dämmert es bereits.
    Das erste Tageslicht verwandelt die gestern noch liebliche Tropenkulisse in eine widerborstige Trockensavanne. Tamarinden und Kakteen krallen sich in roten Sand. Überfahrene Schlangen kleben auf dem Asphalt. Die Straße nähert sich einzelnen, fast senkrecht aufragenden nackten Ausläufern der Berge im Westen, als der Nordwind plötzlich abbricht. Ein grauer Schleier zieht vor die Sonne, aber sie verbrennt mir trotzdem den Nacken. Doch das eigentliche Problem sind die wunden Stellen auf meinen Oberschenkeln. Sie fangen an zu nässen. Ich klebe sie mit handtellergroßen Pflastern ab, damit sie nicht aneinanderscheuern . Aber es nützt nicht viel. Meine Schritte schmerzen. Gleichzeitig krabbeln juckende Hitzepickel aus meinen Stiefeln die Waden hinauf und malen rosa Muster auf die winterbleiche Haut.
    Je weiter ich mich vom grünen Küstenstreifen entferne, desto größer werden die Abstände zwischen den Dörfern.
Gegen sechs Uhr speise ich in einer biblisch wirkenden Strohhütte Linsenfrikadellen. Der Besitzer des Straßenkiosks wirft sich meinen Rucksack auf die Schulter und reicht ihn weiter an seine Gäste, die auf einer Steinbank sitzen. Ich ernte
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