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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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Fliegerkarten, die ich aus dem Internet ausgedruckt hatte. Nächtelang surfte ich mit Google Earth über das Relief des Subkontinents und sammelte Informationen über Klima, Bevölkerung und Straßenverhältnisse. Es schien leicht möglich, der Route der historischen Expedition zu folgen. Ich kalkulierte drei Monate für die Strecke und beschloss, sie in zwei etwa gleich lange Etappen zu zerlegen: Der erste Teil der Reise sollte mich von der Südspitze bis in die zentralindische Metropole Hyderabad führen, der zweite ein Jahr später von dort nach Mussoorie im Himalaya.
    Je tiefer ich in diesen langen Herbstnächten virtuell und auf dem Papier in das Innere des Subkontinents vordrang, desto
deutlicher spürte ich, dass ich auch eine persönliche Mission plante. Ich war nie ein klassischer Indienreisender gewesen. Ich hatte mich nie für Yoga und Meditation begeistert. Sondern immer nur für das moderne, das demokratische Indien, für ein Land im wirtschaftlichen Aufbruch. Ich hegte ein großes Misstrauen gegen seine althergebrachten Ungerechtigkeiten, gegen die traditionelle Rolle der Frau, gegen das Kastensystem. Deshalb war es mir in all den Jahren nie gelungen, in diesem Land auch nur einen einzigen Ort zu finden, an dem ich mich restlos wohlfühlte. Vielleicht, dachte ich, will ich auf dem 78. Längengrad nur mein ambivalentes Verhältnis zu Indien ordnen. Vielleicht will ich nur herausfinden, ob es mir irgendwo auf der Strecke doch gelingt, dieses Land bedingungslos zu lieben.
    Umfangreiche Ausrüstung musste ich für meine Expedition nicht zusammenstellen; die Temperaturen im Süden des Subkontinents sind ganzjährig tropisch, man braucht nicht viel. Im kalten norddeutschen Novemberregen lief ich ein Paar angeblich tropentaugliche Trekkingschuhe ein, wie sie die deutschen Soldaten in Afghanistan tragen. Im Advent testete ich mich durch Kollektionen synthetischer Trekkinghosen und schweißreduzierender Hightechhemden. Ich kaufte einen Ultraleichtrucksack, einen Sommerschlafsack, Wasserentkeimer, einen selbsttragenden Moskitotunnel und einen knappen Liter Mückenspray, um mich vor Malaria- und Denguefieber zu schützen. Und saß kurz nach Weihnachten im Flieger nach Südasien.

Erste Reise
Von Kanyakumari nach Hyderabad

Aufbruch
    An einem Sonnabendnachmittag im späten Dezember 2007 springe ich auf der Südspitze des indischen Subkontinents aus einem altmodischen Ambassador-Taxi. Mit einem Zehn-Kilo-Rucksack auf den Schultern steuere ich zum Empfang des Vivekananda Centre, einem breiten Holztisch auf der Veranda eines Backsteinbungalows. Die schräg einfallende Sonne ist immer noch brütend heiß. Unter einem schlingernden Ventilator wälzen zwei muffelige Bedienstete Bücher und zusammengeklammerte Zettel und diskutieren mit einer Traube von Wartenden über Buchungen und Check-out-Zeiten. Die Gäste sehen aus, wie einem Film über den indischen Unabhängigkeitskampf entsprungen: alte Herren mit gebügeltem Oberhemd über weißem Wickelrock, Damen mit Kastenbrillen und hellblauen Saris, den metallenen Henkelmann mit dem selbst gemachten Mittagessen in der Hand.
    Ich habe ein Zimmer reserviert. Aber keiner scheint hier etwas von mir zu wissen. »Unter Ihrem Namen ist nichts gebucht«, nuschelt einer der Männer an der Rezeption durch seinen Schnauzer, als ich mich an den Tresen vorgekämpft habe.
    »Doch, doch. Und ich habe vorgestern noch einmal angerufen. «
    Er wühlt sich umständlich durch einen Haufen bunter Zettel auf der rechten Seite des Holztresens und blickt mich ratlos an. »Nein, ich kann hier wirklich keine Notiz finden.«
    Es ist nicht so, dass ich überrascht wäre. Ich bin ja nicht zum ersten Mal in Indien. Aber ich schwitze und bin müde. Ich brauche eine Dusche und ich habe gelesen, wie schlecht alle anderen Unterkünfte in der Kleinstadt Kanyakumari sind. »Hören Sie«, sage ich. »Ich habe die Bestätigung meiner Reservierung nicht bei mir. Aber ich könnte in die Stadt gehen und die E-Mail ausdrucken. Ich brauche unbedingt ein Zimmer. Schauen Sie doch bitte noch einmal ganz genau nach.«
    Der Mann an der Rezeption mustert mich neugierig. Er schlurft wortlos in einen der Räume im Inneren des Bungalows, klappert und raschelt herum, murrt und lamentiert zehn Minuten lang mit seinem Kollegen, bevor er mit einem Schlüsselanhänger wieder herauskommt. »Wir machen einen Raum für Sie frei. Eigentlich ist er schon vergeben, aber die Gäste sind nicht gekommen. Bis jetzt. Wenn sie doch noch
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