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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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anerkennendes Lächeln. Kurz nach Sonnenaufgang passiere ich einen bunt bemalten Tempelelefanten, der eine einfache Kutsche zieht. Am Vormittag erreiche ich die Kleinstadt Kalakkadu, einen hübschen Ort mit niedrigen weißen Häusern an sauberen engen Gassen und schattigen Alleen.
    Um drei Uhr nachmittags kapituliere ich. Die Wunden zwischen meinen Schenkeln schmerzen bei jedem Schritt. 35 Kilometer vor Tirunelveli hocke ich erschöpft in einem kleinen Dorf, das mir wie eine Geisterstadt vorkommt: Die Läden sämtlicher Geschäfte sind heruntergelassen, kaum ein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Dafür Massen von Wasserbüffeln, die durch den Ort getrieben werden, Hunderte Tiere pro Herde, eine Herde nach der anderen, stinkend, die Hüften voller Kot, umweht von Fliegenschwärmen, von den Hirten nur mühsam mit Steinwürfen und Pfiffen im Zaum gehalten. Ein viehisches Inferno. Nach einer halben Stunde hält ein Trecker vor der Ladenzeile. »Tirunelveli?«, fragt ein fröhlich grinsender Bauer. Ohne nachzudenken, springe ich auf den Anhänger und lege mich ausgestreckt auf die lose Ladung gebrauchter Ziegelsteine.
     
    Ich quartiere mich im Ostteil der Distrikthauptstadt ein, eigentlich eine separate Zwillingsstadt namens Palayamkottai. Sie ist berühmt als »Oxford« Südindiens. Aber ich nehme vor allem Müll wahr. Das Bett des Thamirabarani-Flusses direkt neben dem Hotel führt nur ein Rinnsal Wasser, dafür umso mehr kunterbunte Reste von Plastiktüten, Dosen und Pappe. Mein Zimmer im »besten Haus« am Platz, wie der Treckerfahrer versicherte,
ist klaustrophobisch dunkel. Im Nebenraum reißt ein Handwerker mit einem gewaltigen Vorschlaghammer die Wand ein, um eine Klimaanlage zu installieren, wodurch in meinem Zimmer im Minutentakt der Putz von der Decke fällt. Ein undefinierbarer, süßlicher Geruch zieht durch die Flure.
    Im Fernsehen läuft ein Sender, der GOD heißt. »Egal, ob du Krebs hast oder bettlägerig bist, der Herr wird dir helfen«, flötet ein junger Mann mit Oberlippenflaum und Betonscheitel. Am unteren Bildrand erscheint die Telefonnummer der »Blessing Line«. Im Hintergrund gleitet eine Seilbahn einen bewaldeten Berghang zu irgendeiner Sommerfrische im Himalaya hinauf. Irgendwo da im Norden liegt mein Ziel, kühl und fern.
    Als ich am frühen Abend vor dem Hotel auf ein Taxi warte, bremst ein Motorrad. »Ich bin Polizist«, sagt der Fahrer. Es kann keinen zuverlässigeren Führer durch die Stadt geben als einen motorisierten Staatsbeamten, wenn auch nur in Zivil, denke ich und frage ihn, ob er mich zu einer Apotheke fahren kann. Er stellt sich als Balakrishnan vor. Seine gegeelten Haare flattern über den polierten Glatzenansatz, als er die bullernde Maschine vom Typ Royal Enfield in die Innenstadt von Tirunelveli manövriert.
    Um den zentralen Nellaiappar-Tempel wälzen sich gegenläufig Menschen-, Fahrrad- und Automassen. Auf dem Dach des Heiligtums stapeln sich Stockwerke von Göttern. Am Straßenrand sitzen Marktfrauen und offerieren Zuckerrohr und Erdnüsse vor Düngemittel- und Pestizidhandlungen. Juweliere palavern in den weiß ausgeschlagenen Sitzecken spärlich beleuchteter Läden. In der gewittrigen Luft liegt der ätzende Gestank von Gerbereien. Auf den Holzstufen der Star Pharmacy hockt ein Bauer mit einem hinkenden Zicklein am Paketband und blickt apathisch in den grünlich glühenden
Dämmerhimmel, aus dem vereinzelte Regentropfen fallen. Hinter dem Tresen der Apotheke steht stocksteif ein Alter mit schlohweißen, schulterlangen Locken. »Zeig mir deine Füße«, sagt er knapp. Er blickt kurz auf die Hitzepickel und nickt. Die Peinlichkeit, meine Lenden zu untersuchen, erspart er mir, eine Beschreibung der Symptome reicht aus.
    »Das hat hier jeder Zigeuner.« Er lächelt zweideutig zu seiner Tochter, einer drallen Mitdreißigerin mit hochgesteckten Haaren, einem burschikosen Gesicht und großen, tiefschwarzen, glänzenden Augen. Sie springt von einem Plastikhocker auf.
    »Ich heiße Radha«, sagt sie. Radha legt einen Abschnitt Antihistamintabletten und eine Antibiotikasalbe auf den Tresen, von der ich später erfahre, dass sie in Europa nur noch bei Tieren verwendet wird. »Wie ist das denn passiert?«
    »Beim Wandern. Ich bin von Kanyakumari bis in ein Dorf gelaufen, das etwa 30 Kilometer südlich von hier liegt.«
    Sie schaut bewundernd zu mir auf. »Jetzt kannst du dich ja ausruhen.«
    »Nein, ich laufe weiter. Nach Bangalore, nach Hyderabad.«
    Sie schweigt. In ihren
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