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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
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ist doch nicht Ihr Ernst.«
    »Warten Sie's ab.« Er wandte sich wieder dem Fernseher zu, kniete nieder und hantierte an den Reglern, bis er die gewünschte Sendung gefunden hatte.
    »Wie können Sie es wagen, über mich zu urteilen? Sie haben kein Recht dazu, und das wissen Sie!«
    »Was soll das jetzt wieder?«
    »Sie werden Ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht. Sie meinten, Sie würden keine verbotene Technik einsetzen. Zu Veilleur haben Sie gesagt, wenn Sie es doch täten, wären Sie nicht besser als ein gewöhnlicher Krimineller. Trotzdem haben Sie sie die ganze Zeit in Reserve gehalten, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können.«
    Das Drama strebte seinem Höhepunkt entgegen.
    Man hatte den jungen Byron an den Mast von Ahabs Arche gefesselt. Seine Meerjungfrau wartete in einem Käfig im Moor verzweifelt auf das Nahen der Flut. Sie sang in Erwartung des Todes.
    »Ich habe Sie angelogen«, sagte der Bürokrat. »Seien Sie jetzt still. Ich will mir das ansehen.«
    Kurze Zeit später sagte die Aktentasche: »Chef? Er ist zu stolz, um es selbst vorzuschlagen. Aber ich weiß, was er durchmacht. Ich könnte Gregorian auf der Stelle töten, indem ich sein Nervensystem überlaste. Es wäre ein schmerzloser Tod.«
    Der Bürokrat ruhte in einem Nest flauschiger Kissen, die mit hellen Archipel-Mustern bedruckt waren. Er starrte auf den Fernseher, ließ sich überschwemmen von dessen Licht. Er war erstaunlich müde. Die Bilder bedeuteten ihm nichts mehr, sie waren nur noch ein sinnloser Strom von Informationen. Er war leer, erschöpft.
    Jedesmal, wenn er aufsah, funkelte Gregorian ihn an. Wenn er tatsächlich Zauberkräfte besaß, würde er nicht einsam sterben. Doch obwohl der Bürokrat den Zug dieser Augen spürte, wich er ihnen aus. Ebensowenig gestattete er es seiner Aktentasche, die Worte des Magiers zu übermitteln. Er weigerte sich, zuzuhören. Dadurch wollte er verhindern, daß er sich in letzter Minute beschwatzen ließ.
    »Nein«, sagte er milde. »Ich glaube, es ist besser so, meinen Sie nicht?«

    Die Flut kam. Das Land erschauerte in Erwartung des Ozeans. Die Geräusche im Muttergestein wurden von den Hohlräumen und Grundmauern nach oben geleitet, ein gedehntes Ächzen und gewaltige submarine Seufzer. Sonore Monster rumpelten durch die Knochen des Bürokraten und grollten in seinem Bauch. Die ganze Stadt knisterte und knackte vor Erwartung. Die Karbonfaserstreben summten in Resonanz.
    Der Meereshammer war unterwegs.
    Wenn die riesige Welle käme, würde sie über Ararat herfallen und die Stadt wie eine Glocke einhüllen. Alles Wasser der Welt würde sich zu einer gewaltigen Faust vereinen und niederkrachen. Von innen heraus würde sich der Schlag anfühlen wie das Ende der Zivilisation, wie die größte Überschwemmung und das gewaltigste Erdbeben aller Zeiten. Nichts würde der Flut standhalten können. Es wäre die endgültige Herabkunft der Finsternis.
    Wenn das Wasser schließlich wieder sank, würde Gregorian nicht mehr leben.
    Dann würde der Bürokrat endlich schlafen können.

14 - Der Tag der Flut
    Der Bürokrat saß in der Kommandozentrale und schaute sich die letzte Folge seiner Serie an. Die Flut hatte eingesetzt, und die meisten Akteure waren bereits tot.
    Inmitten der umherwirbelnden Wrackteile von Ahabs Schiff lagen zwei winzige Gestalten erschöpft auf einem zerstörten Teil des Decks. Die eine war Byron, der junge Mann, der geliebt und betrogen hatte und nun um eine Frau aus dem Meer trauerte. Seine Augen waren halb geschlossen, der Mund eine salzverkrustete klaffende Wunde. Er hatte mehr gelitten als jeder andere Darsteller und hatte Qual und Enttäuschung weit hinter sich gelassen. Trotzdem hatte er es mit letzter Kraft noch geschafft, ein Kind vor dem Verderben zu retten.
    Die zweite Gestalt war das Kind selbst, das kleine Mädchen Eden. Aus dem ausgemergelten Gesicht leuchteten die Augen wie dschungelgrüne Funken hervor. Durch die Flut hatte es seinen Autismus überwunden und war wieder ins Leben zurückgekehrt. Es richtete sich auf, deutete in die Ferne und rief: »Sieh mal! Land!«
    Es war zwar nur ein Film, aber der Bürokrat freute sich trotzdem, daß Eden überlebt hatte. Irgendwie ließ sich alles andere so leichter ertragen.
    Seine Aktentasche betrat den Raum. »Chef? Es wird Zeit.«
    »Das denke ich auch.« Er stand schwerfällig auf, dann kniete er nieder und schaltete den Fernseher ein letztes Mal aus. Damit war jetzt endgültig Schluß. »Geh voran.«
    Leuchtsignale
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