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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
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schloß, sah er immer noch das Wasser auf sich herunterstürzen. Es hatte sich auf ewig seiner Netzhaut eingeprägt. Er hatte das Gefühl zu fallen. Und obwohl er über das Geschehene nicht sprechen konnte, vermochte er doch auch nicht davon zu schweigen. Er mußte Mund und Ohren mit Geräuschen füllen, um die nachtönende Stimme Gottes mit Reden zu vertreiben, ganz gleich worüber.
    »Wenn du alles haben könntest«, sagte er, und die Frage schwebte so willkürlich und sinnlos wie ein Schmetterling in der Luft, »was würdest du dir wünschen?«
    Die Aktentasche wich vor ihm zurück, mit drei raschen, gezierten Schritten. War sie ebenfalls von der Flut in Mitleidenschaft gezogen worden? Nein, ausgeschlossen. Sie stellte nur einen respektvollen Abstand zu ihm her. »Ich habe keine Wünsche. Ich bin eine Maschine, und Maschinen existieren nur, um den Menschen zu dienen. Dafür wurden wir erschaffen. Das wissen Sie doch.«
    Er meinte verschwommene Wesen zu sehen, die näher taumelten, lautlos gegen das Fenster stießen und davon abprallten. Ledrige Ungeheuer stiegen aus der Tiefe empor und starben Zentimeter vor seinem Gesicht. Er mußte sich gewaltsam davon losreißen, um die Unterhaltung fortführen zu können. »Nein. Ich will diesen Unsinn nicht mehr hören. Sag mir die Wahrheit. Die Wahrheit. Das ist ein Befehl.«
    Lange Zeit summte die Maschine vor sich hin. Hätte er es nicht besser gewußt, hätte er gemeint, sie wolle nicht antworten. Dann sagte sie beinahe schüchtern: »Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann würde ich mich für ein ruhiges Leben entscheiden. Ich würde irgendwo hingehen, wo ich mich Menschen nicht unterzuordnen bräuchte. Wo ich nicht als eine Art künstliches Antropomorph dienen müßte. Dort wäre ich ich selbst, was immer das sein mag.«
    »Wo würdest du hingehen?«
    Nachdenklich, zögerlich, sich zum erstenmal über die Einzelheiten klarwerdend, sagte die Aktentasche: »Ich ... würde mir am Meeresboden ein Zuhause schaffen. In den Gräben. Dort gibt es nahezu unberührte Mineralablagerungen. Und vulkanische Strömungen, aus denen ich Energie abzapfen könnte. In dieser Tiefe gibt es kein anderes intelligentes Leben. Das Land und den Weltraum würde ich den Menschen überlassen. Und den Kontinentalsockel den Drulen ... falls es überhaupt noch welche gibt, meine ich.«
    »Du wärst dort einsam.«
    »Ich würde andere Maschinen nach meinem Vorbild bauen. Ich würde eine neue Rasse gründen.«
    Der Bürokrat versuchte sich eine verborgene Zivilisation von kleinen, emsigen Maschinen vorzustellen, gedrungen und mit einem Panzer versehen, damit sie dem gewaltigen Druck in der Tiefe standhielten. »Das klingt furchtbar öde und langweilig, wenn du mich fragst. Warum solltest du dich für ein solches Leben entscheiden?«
    »Weil ich dann meine Freiheit hätte.«
    »Freiheit«, sagte der Bürokrat. »Was ist das?« Ein Brecher spülte über die Stadt, verwandelte alles, zog sich zurück, stellte alles wieder her. Auf hellen Sonnenschein folgte ein dunkles, nahezu schwarzes Grün, dann schien wieder die Sonne. Draußen war die Welt im Fluß, ein sich wandelndes Chaos. Mit lebenden und sterbenden Wesen, die sich alle seiner Kontrolle entzogen. Er hatte das Gefühl, nichts sei mehr wichtig.
    Fast beiläufig sagte er: »Also gut. Wenn das alles vorbei ist, lasse ich dich frei.«
    »Du wirst mein Sensorium nur für ein paar Minuten anzapfen können, bevor du außer Reichweite bist. Schwimm möglichst geradeaus, dann dürfte Ararat deine Sinne nicht allzusehr verwirren. Wenn du nahe an der Oberfläche bleibst, kannst du dich am Ring orientieren.«
    »Ich weiß.«
    Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch es fiel ihm nichts ein. Vielleicht ein paar Ratschläge für die Zivilisation, die der Apparat gründen würde. »Sei gut«, setzte er an, dann brach er ab. Er unternahm einen neuen Anlauf. »Und bleibt nicht ewig da unten - du und dein Volk. Wenn du dich sicherer fühlst, komm herauf und schließe Freundschaften. Intelligente Wesen haben etwas Besseres verdient, als im Verborgenen zu leben.«
    »Und wenn es uns in den Gräben gefällt?«
    »Dann versucht unter allen Umständen ...« Er verstummte. »Du machst dich doch nicht etwa lustig über mich?«
    »Doch«, antwortete die Aktentasche. »Es tut mir leid, Chef, aber das tue ich. Ich mag Sie wirklich, das wissen Sie, aber die Rolle des Gesetzgebers steht Ihnen einfach nicht.«
    »Dann mach, was du willst«, meinte der Bürokrat.
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