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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
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geleiteten sie über den Korridor. Immer noch aktive Sicherheitssysteme schwenkten ihnen nach und ließen sie passieren, tauschten verschlüsselte Signale aus und schalteten aufgrund der fehlenden Rückmeldung durch einen Menschen wieder auf Bereitschaft. Da die Basis auf ranghohe Theoretiker zugeschnitten war, konnte es gar nicht anders sein.
    Die Tür ging auf.
    Der Himmel zeigte ein erstaunliches Blau. Caliban schwebte tief über dem Horizont, so flach wie eine Pappscheibe; der Ring der Städte war ein weißer Strich, so dünn und zart wie die Spur eines Meteoriten. Sie traten ins Freie.
    Der Bürokrat blinzelte ins Tageslicht. Die Terrasse war weiß und leer. Die Unwetter der letzten Woche hatten allen Unrat beseitigt. Pouffe war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Von Gregorian waren nur noch die Ketten übrig.
    Die Welt roch nach salziger Luft und sich eröffnenden neuen Möglichkeiten. Das Meer erstreckte sich in alle Richtungen, sein Triumph über das Land war vollkommen. Es war zu groß, als daß der Bürokrat es vollständig in sich hätte aufnehmen können. Jetzt, wo er auf diesem winzigen Fleckchen festen Bodens stand, fühlte er sich klein und erfrischt. Seine Augen schmerzten von der Anstrengung des Sehens und Nicht-Begreifens.
    »Hier entlang.«
    »Warte einen Moment.«
    Vor der Flut hatte er das Meer nur aus dem Orbit gesehen, und einmal, auf dem Flug nach Ararat, als verschwommenen Flecken am fernen Himmel. Jetzt umgab es ihn, grenzenlos, in unaufhörlicher Bewegung. Scharfe Wogen mit weißen Schaumkronen wölbten sich empor und fielen in sich zusammen, ehe man sie überhaupt wahrnahm. Die Brandung krachte gegen die Außenmauern des Gebäudes und sandte spitzenartige Wasserfontänen empor.
    Für einen Außenweltler war dies eine unglaubliche Umgebung. Das Land war anders, sein Wandel und seine Bewegungen blieben dem Auge verborgen, so daß es mühelos wahrgenommen, vereinfacht und begriffen wurde. Das Meer jedoch war gleichzeitig zu einfach und zu komplex, um es sich mittels der Wahrnehmung zu unterwerfen. Es beschämte und demütigte ihn.
    »Sie haben es sich nicht wieder anders überlegt, nicht wahr?« erkundigte sich die Aktentasche besorgt.
    »Nein, natürlich nicht.« Er riß sich zusammen und bedeutete der Aktentasche, ihm zu folgen. »Ich brauche nur etwas Zeit, um mich darauf einzustellen.«
    Auf Ararat waren alle Richtungen eins. Ein kurzer Spaziergang vom Militärkomplex in seiner Mitte führte unweigerlich zu einer Steilkante, und dahinter war das Meer. Sie schlenderten zur windabgewandten Seite der Insel hinüber, Straßen entlang, die mit kleinen weißen Anemonen gesprenkelt waren. Sturmvögel stürzten bei ihrer Annäherung davon. Irgendwo nisteten zwei Shimmies. Das Leben des Großwinters nahm die Stadt bereits in Beschlag.
    Seemöwen stießen herab, so schwarz wie die Sünde.
    An einem alten Ladedock wichen die Gebäude auseinander. Rote und gelbe Verkehrspfeile und Markierungskreise waren dauerhaft in den Steinboden eingeprägt. Dahinter war nichts als Wasser. Hier blieben sie stehen, inmitten des sanften Tosens der Brandung und des ständigen Flüsterns des Winds. Beide waren sie befangen, so daß keiner als erster das Wort ergreifen wollte.
    Schließlich räusperte sich der Bürokrat. »Also gut.« Sein Tonfall klang falsch, zu hoch und zu beiläufig. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dich freizulassen.«

    Noch ganz unter dem Eindruck der Flut stehend, während gelegentlich noch ein Brecher über den höchsten Stellen der Stadt zusammenbrach, war der Bürokrat nicht in der Lage, über das, was geschehen war, zu sprechen. Die Erfahrung war zu überwältigend gewesen, um sie in Gedanken zu fassen, von Worten ganz zu schweigen. Für ein einzelnes Bewußtsein war sie einfach zu gewaltig gewesen.
    Er stand da und stützte sich mit einer Hand an der Fensterwand ab. Der Boden bebte, und das frenetische Heulen der überlasteten Streben drang aus einer Viertelmeile Tiefe zu ihnen herauf. Noch immer klingelten ihm die Ohren.
    Irgend etwas war in ihm abgestorben. Eine Spannung hatte sich gelöst, seine Entschlußkraft sich verflüchtigt. Es mangelte ihm am Willen, in seine alte Nische im Palast der Rätsel zurückzukehren. Sollte jemand anders verteidigen, was heilig und notwendig war. Sollte doch Philippe seinen Platz einnehmen. Darin war er gut. Der Bürokrat aber hatte keine Lust mehr dazu.
    Der Bürokrat legte die Stirn an die Glasscheibe. Kühl, unpersönlich. Wenn er die Augen
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