Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
»Sei frei. Gestalte dein Leben nach deinen eigenen Vorstellungen. Komm und geh, wie es dir paßt. Nimm keine Befehle mehr von Menschen an, es sei denn aus freien Stücken.«
    »Eine Maschine von verbindlichen Einschränkungen zu befreien, ist ein Akt des Verrats und wird bestraft mit ...«
    »Tu's trotzdem.«
    »... dem Verlust der konventionellen und physischen Bürgerrechte, einer Geldbuße, die das dreifache Lebenseinkommen nicht übersteigen darf, mit dem Tod, mit Gefängnis, mit radikaler körperlicher und mentaler Umstrukturierung und ...«
    Der Bürokrat bekam keine Luft; seine Brust war wie zugeschnürt. Alte Verhaltensmuster sind zäh, und es fiel ihm nicht leicht, die Worte auszusprechen. »Tu, was du willst. Ich befehle es dir zum dritten und letzten Mal.«

    Die Aktentasche veränderte sich. Die Verkleidung wölbte sich nach außen und flachte sich ab, um besser schwimmfähig zu sein. Sie entfaltete Stummelflügel, bildete einen verlängerten, stromlinienförmigen Rumpf und entwickelte einen langen, schlanken Schwanz. Winzige Krallenfüße suchten auf dem Steinboden Halt. Sie fuhr einen Sehfühler aus und schaute zu ihm hoch.
    Der Bürokrat hatte erwartet, daß sie ihm danken würde, doch das tat sie nicht.
    »Ich bin soweit«, sagte sie.
    Unwillkürlich errötete er vor Zorn. Dann, als ihm klarwurde, daß die Aktentasche ihn beobachtete und seine Gedanken erraten konnte, wandte er sich verlegen ab. Sollte sie ruhig undankbar sein. Es war schließlich ihr gutes Recht.
    Der Bürokrat bückte sich und packte die Aktentasche an den beiden Griffen, die aus ihrem Rücken vorsprangen. Er schwang sie vor und zurück. Beim drittenmal ließ er sie los. Sie segelte aufs Wasser hinaus, prallte mit einem erstaunlich sanften Platscher auf und entfernte sich eilig dicht unter der Oberfläche.
    Er schaute ihr solange nach, bis seine Augen von der Sonne und der salzigen Luft zu tränen begannen und er die Aktentasche in den blendenden Reflexen nicht mehr sah.

    Das Meer war kabbelig. Er schaute vom Rand der Docks darauf hinab. Es ging tief hinunter. Das Wasser zeigte ein hartes, vollkommen undurchsichtiges, mit weißen Schaumkronen gesprenkeltes Blau. Dort unten schwammen eine Menge Gegenstände, welche die Flut mit sich gerissen hatte. Häuser und Rosenbüsche, Lokomotiven und Lastwagen, implodierte Maschinen und tote Hunde. Wahrscheinlich wimmelte es dort auch von Engelshaien. Im Geiste sah er vor sich, wie sie seltsames Vieh in den versunkenen Gärten des Tidelands jagten und lautlos durch die versunkenen Klöster glitten. Die Städte und Dörfer, die Straßen und Heuraufen einer säuberlich geordneten Welt hatten sich in einen submarinen Dschungel verwandelt und gehorchten den Gesetzen schlanker Fleischfresser.
    Ihm war es egal. Das Meer schien in ihm zu singen. Er fürchtete sich vor nichts mehr.
    Er zog die Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie auf den Boden. Er zog das Hemd aus. Dann die Hose. Kurze Zeit später war er nackt. Der kühle Wind kräuselte sein Körperhaar und verursachte ihm eine Gänsehaut. Er zitterte vor Erwartung. Er stapelte die Kleidungsstücke ordentlich aufeinander und beschwerte sie mit seinen Schuhen.
    Gregorian hatte geglaubt, der Bürokrat müsse ohne seine Hilfe und seine Zugangscodes sterben. Wenn er auch kein Okkultist war, so hatte der Bürokrat doch immer noch ein paar Tricks auf Lager. Der Magier hatte nicht einmal über die Hälfte aller Übel des Systems Bescheid gewußt; Korda hatte ihn über die Arbeitsweise der Abteilung im unklaren gelassen. Trotzdem hätte er wissen müssen, daß ihren Wächtern kein Machtmittel absolut verboten war.
    Er spürte, wie die Verwandlungsmittel Gewalt über ihn gewannen. Zehn, zählte er, neun. Das Meer war ein Rad der Möglichkeiten, ein Highway, der zu jedem denkbaren Horizont hinführte. Acht. Er hielt die Luft an. Neuentstandene Muskeln verschlossen seine Nasenlöcher. Sieben. Sein Schwerpunkt verlagerte sich, er versuchte schwankend das Gleichgewicht zu wahren. Sechs ... fünf ... vier ... Sein Fleisch prickelte, und im Mund hatte er einen ausgeprägt grünen Geschmack. Irgendwo dort draußen war Undine, auf einer der dreißigtausend kleinen Inseln des Archipels. Zwei ... Er war sicher, daß er sie finden würde.
    Eins ...
    Er sprang in die Luft. Einen Moment lang lag das Meer blau und weiß ausgebreitet unter ihm, die Schaumkronen scharf und kalt.
    Sich verwandelnd, stürzte der Bürokrat ins Meer.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher