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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille
Autoren: Inge Löhnig
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fühlte sich gut an. Dühnfort spürte einen Augenblick diesem Gefühl nach, dann griff er nach dem anderen Brief. Er war von Agnes. Auch er enthielt eine Klappkarte. Auf der Vorderseite war eine schwarze Figur vor dunkelblauem Hintergrund abgebildet, wie ein Scherenschnitt, einige schiefe gelbe Sterne leuchteten daraus hervor und aus dem Schwarz ein rotes Herz. Er drehte die Karte um. Henri Matisse, Ikarus (1943), stand dort. Er lachte. Ausgerechnet Ikarus schickte sie ihm.
     
    Lieber Tino,
    Deine Antwort hat mich überrascht. Hast Du Dir tatsächlich Les Fleurs du Mal gekauft? Es muss wohl so sein. Eine Antwort, wie Du sie gegeben hast, fliegt einem ja nicht einfach zu. Es war nicht meine Absicht, Dich zu verletzen, als ich Dir diesen Vers schrieb, vielmehr zu erklären, aber anscheinend hast Du es nicht verstanden. Vermutlich war ich wieder einmal zu umständlich, zu indirekt. Das Direkte, das Mit-der-Tür-ins-Haus-Fallen, ist nicht meine Art. Was ich Dir mit diesen Zeilen sagen wollte: Hätten wir uns zu einer anderen Zeit getroffen, unter anderen Umständen, hätte ich Dich lieben können. Es war nie meine Absicht, mit Deinen Gefühlen zu spielen. Ich kannte sie ja nicht, ich habe sie höchstens geahnt, und das ist der einzige Vorwurf, den ich mir mache. Ich hätte dieser Vermutung nachgehen sollen, und zwar frühzeitig, um Dir die Enttäuschung zu ersparen. Glaub mir, es tut mir unendlich leid. Ich habe niemals Scherz mit Dir getrieben. Um im von Dir gewählten Gedicht zu
bleiben, sollten wir nun
dies wüste Spiel
zu Ende gehen lassen. Wobei ich
wüst
lieber durch
missverständlich
ersetzen würde. Ich wünsche Dir die Erfüllung Deiner großen Sehnsucht. Für mich ist sie zu groß.
    Mach es gut, Agnes
     
    Dich hätt’ ich geliebt, und du hast es geahnt.
Der kalte Schmerz war wieder da, breitete sich aus, strömte bis in die Gliedmaßen, machte sie empfindungslos, bis er wie erfroren auf dem Sofa saß.
Für mich ist sie zu groß.
Er gab sich einen Ruck, schenkte das Glas voll und trank.
Enttäuschung.
Als ob es darum ginge. Dühnfort klappte die Karte zu und legte sie auf den Tisch. Ikarus. Er war auf seinem Flug der Sonne zu nahe gekommen und ins Meer gestürzt. Welch passendes Motiv. Nur, dass er nicht untergehen würde.

M ONTAG , 27 . O KTOBER
    Das Wochenende war überstanden. Ein kleines Stück des Weges, den sie nun alleine gehen musste, war bewältigt. Babs wusste nicht, woher sie die Kraft genommen hatte, aber sie hatte es geschafft, die Jungs vom Bus abzuholen und Worte zu finden, die beschrieben, was geschehen war – allerdings ohne zu sagen, was Albert ihr beinahe angetan hätte. Das andere war schon schlimm genug. Noel war weinend in sein Zimmer gerannt. »Ich will ihn nie wieder sehen. Nie, nie, nie!« Ganz anders Leon, der sich in die Sofaecke gekauert und stundenlang geschwiegen hatte. Anschließend war er zu Babs in die Küche gekommen und hatte gefragt, ob er seinen Vater besuchen könne. Sie hatte genickt, obwohl sie sich fragte, ob es nicht besser sei, jeden Kontakt zu unterbinden.
    »Du bist mir auch nicht böse?«
    »Natürlich nicht«, hatte Babs erwidert. »Warum möchtest du ihn besuchen?«
    »Ich will verstehen, warum er das getan hat«, hatte Leon mit ernstem Gesicht geantwortet.
    Das war am Freitagnachmittag gewesen, kurz bevor Babs mit den Kindern zu ihren Eltern geflüchtet war. Noch am Donnerstag hatte die Polizei in einer Pressemitteilung die Öffentlichkeit informiert, und die Hetzjagd hatte begonnen. Reporter und Fernsehteams stürmten die Häuser in der Kaiserstraße und am Kurfürstenplatz. Nachbarn und Mieter steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, oder schlimmer noch, schwatzten in jedes Mikrofon. Den Kindern machte das mehr Angst als ihr.Und dann stand da plötzlich ihr Vater in der Tür. Wie ein Bär, der sein Junges beschützt, schob er sich an den Journalisten vorbei in die Wohnung. »Packt das Nötigste. Ihr kommt zu uns.« Unter seinem Geleit hatten sie die Wohnung verlassen und waren, gefolgt von Reportern, zum Haus ihrer Eltern gefahren, das seither von beharrlichen Medienvertretern belagert wurde.
    Am Samstagnachmittag hatte dann plötzlich Carsten Morgenroth in der Küche ihrer Mutter gestanden. Babs räumte gerade die Spülmaschine aus und erschrak, als sie ihn sah. Sie konnte es sich nicht leisten, den Job zu verlieren, von dem sie hoffte, dass er zu einem Startblock würde. In Zukunft musste sie allein für sich und die Kinder sorgen. Von Alberts Geld
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