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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille
Autoren: Inge Löhnig
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und lief zu Fuß bis zur nächsten UBahn-Station.
    Erst als sie in einem muffig riechenden Abteil saß, wurde ihr klar, was sie soeben aufgegeben hatte. Ihre Karriere konnte sie vergessen, ein solcher Abgang sprach sich herum.
Nicht belastbar,
würde es in Zukunft von ihr heißen,
teamunfähige Primadonna.
Aber nichts in ihr schalt sie eine dumme Gans oder eine hysterische Kuh. Da war nur eine wartende Leere in ihr. Ein Vakuum, das darauf lauerte, befreit zu werden, zu explodieren.
    Als Caroline zwei Stunden später die Treppe im Haus am Kurfürstenplatz nach oben stieg, war ihr nicht klar, wie sie hierhergekommen war. Auf den Stufen begegnete ihr Frau Kiendel. Sie warf den Kopf in den Nacken, blieb dann aber stehen und erklärte Caroline, dass sie die Wohnung kündigen würde.
Na und?
In so einem Haus bliebe sie nicht, wie sehr man sich in Menschen täuschen könne. Missbraucht habe der alte geile Bock ihre kleine Franziska. Unfrieden seiner Asche, keinen Tag länger würde sie hier wohnen. Caroline ging an ihr vorbei nach oben und ließ die Beschimpfungen hinter sich im Treppenhaus verhallen. Vor der Wohnungstür stehend, hörte sie drinnen das Telefon läuten. Sie zog den Schlüsselbund aus der Tasche, sperrte Vaters Wohnung auf und trat ein. Das Läuten verstummte.
    Obwohl die Polizei nach der Durchsuchung wieder alles an seinen Platz gestellt hatte, wirkte die Wohnung, als sei etwas verrutscht. Sie ging in die Küche, kochte sich eine Tasse Tee und wartete darauf, dass etwas geschah. Die Leere blieb. Caroline wanderte durch die Räume, öffnete Mutters Schrank. Ach Mutter. Vater hat das Tagebuch vor mir gefunden. Ich hätte die Katastrophe verhindern können. Warum habe ich nicht sofort deinen letzten Wunsch erfüllt? Es tut mir so leid. Ich weiß, dass du uns eigentlich nicht gewollt hast. Wir waren keine Kinder der Liebe. Jedenfalls Bertram und ich nicht. Trotzdem habe ich dich geliebt. Was hast du nur für ein verpfuschtes Leben geführt?
    Caroline sog den vertrauten Duft nach
Tresor
und Lavendel ein, in dem ein Hauch Verbene mitschwang. Dann schloss sie die Tür.
    Im Gästezimmer lagen Kleidungsstücke von Albert. Auf der Kommode stand der Geigenkasten. Caroline ließden Deckel aufschnappen und blickte auf das Instrument. Deshalb also. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging in Vaters Arbeitszimmer. Es roch nach Kirschholz und Möbelpolitur mit einem vagen Anflug von Irish Moos, als hätte er den Raum erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie setzte sich hinter den Schreibtisch. Der Computer war weg, nur die losen Kabel lagen auf dem Tisch. Einige der Ordner fehlten. Sicher waren diese Sachen bei der Polizei. Hier hatte Vater vermutlich mit Mutters Tagebuch gesessen, ungläubig und wütend.
    Wieder begann das Telefon zu klingeln. Caroline ignorierte es. Eine hübsche, mit venezianischem Papier bezogene Schachtel stand auf dem Schreibtisch. Sie nahm den Deckel ab, ein schwacher Hauch unterschiedlicher Düfte entstieg dem Karton. Das waren also die Briefe, die Vater gesammelt und ein Leben lang aufbewahrt hatte. Caroline fuhr mit dem Finger über den Stapel, war kurz in Versuchung, einen Brief herauszunehmen und zu lesen, als sie an einem hängenblieb, der aus festerem Papier war. Sie zog ihn hervor. Es war kein Brief, sondern eine postkartengroße Schwarzweißfotografie. Die Porträtaufnahme eines Mannes, den sie nicht kannte. Trotzdem kam ihr etwas an seinen Gesichtszügen bekannt vor. Sie drehte die Karte um, aber es stand kein Name darauf. Nur ein kleines mit Klebestreifen befestigtes Stück Papier – der abgerissene Deckel einer Schachtel – klebte auf der Rückseite des Bildes.
Cardenol-SIL 20 ml Tropfen.
Caroline lehnte sich zurück, eine beängstigende Vermutung stieg in ihr auf. Sie schnellte hoch, holte ihren Laptop aus der Küche, trug ihn an den Schreibtisch und stöpselte das Internetkabel ein. Als der Rechner hochgefahren war, googelte sie
Cardenol.
Eine Trefferliste von über zweitausend Einträgen folgte. Sie überflog denersten.
Herzglykosid … Medikament zur Behandlung von Herzkrankheiten … Wirkstoff Digitalis … senkt die Herzschlagfrequenz … muss sehr genau dosiert werden … 1966 vom Markt genommen.
Das waren die Worte, die ins Vakuum stachen, es zum Explodieren brachten. Sie sprang auf, fegte schreiend den Karton vom Tisch und das Foto, aus dem ihr Alberts Augen entgegenblickten. Keuchend rang sie nach Atem.
    Jemand trommelte an die Wohnungstür. »Caro, um Himmels willen,
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