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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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machte ihn traurig. Sie konnte es seinen Augen ansehen, als er ein Buch holte und ihr vor dem Einschlafen vorlas. Sie wollte den Rest der Geschichte über Mamas Reise ins Himmels-Japan nicht hören, die Geschichte, die er ihr seit drei Abenden erzählte und die eigentlich ziemlich witzig war. Papa war Übersetzer von Beruf, er übersetzte Bücher und liebte solche Geschichten wohl ein bißchen zu sehr.
    »Ich heiße Kim«, sagte der Junge und steckte den Daumen in den Mund.
    »Ich heiße Emilie«, sagte Emilie.
    Als sie einschliefen, ahnten sie nicht, daß draußen der Morgen dämmerte.
    Anderthalb Stockwerke über ihnen, im Parterre eines Hauses am Rand eines Wäldchens, starrte ein Mann aus dem Fenster. Er fühlte sich seltsam hochgestimmt; fast berauscht, wie vor einer herausfordernden Aufgabe, der er sich absolut gewachsen wußte. Es war unmöglich, richtig zu schlafen. Die ganze Nacht hindurch hatte er manchmal das Gefühl gehabt, für einen Moment weggetreten zu sein, um dann von einem klaren Gedanken aufgeschreckt zu werden.
    Das Fenster zeigte nach Westen. Er sah, wie die nächtliche Dunkelheit sich zum Horizont hin verzog. Streifen von Morgenlicht übergossen die Berge auf der anderen Seite des Tals. Er erhob sich und legte das Buch auf den Tisch.
    Niemand wußte es. In weniger als zwei Tagen würde eins der beiden Kinder im Keller tot sein. Er empfand bei dieser Gewißheit keine Freude, aber eine hochgestimmte Entschlossenheit, die ihn veranlaßte, sich Zucker und Milch für den bitteren, bereits am Vorabend gekochten Kaffee zu gönnen.

7
    »Willkommen im Studio, Inger Johanne Vik. Sie sind Juristin und Psychologin und haben eine Doktorarbeit darüber geschrieben, warum Menschen Sexualverbrechen begehen. Nach den Ereignissen der …«
    Inger Johanne schloß für einen Moment die Augen. Das Licht war grell. Trotzdem war es kalt in diesem riesigen Raum, sie spürte, wie eine Gänsehaut ihre Unterarme überzog.
    Sie hätte die Einladung ausschlagen sollen. Nein sagen. Und jetzt sagte sie:
    »Ich möchte zunächst einmal klarstellen, daß ich durchaus keine Abhandlung zu der Frage geschrieben habe, warum jemand zum Sexualstraftäter wird. Das kann Ihnen – meines Wissens – niemand mit Sicherheit sagen. Ich habe jedoch einen Vergleich zwischen einer zufälligen Auswahl verurteilter Sexualverbrecher und einer ebenso zufälligen Auswahl anderer Straftäter angestellt, um Unterschiede und Parallelen in Herkunft, Kindheit und frühem Erwachsenenalter festzustellen. Meine Arbeit heißt Sexually motivated crime, a comp –«
    » Das waren jetzt viele schwierige Wörter, Frau Vik. Sie haben also eine größere Abhandlung über Sexualverbrecher geschrieben. In weniger als einer Woche sind zwei Kinder brutal ihren Eltern entrissen worden. Kann Ihrer Meinung nach irgendein Zweifel daran bestehen, daß es sich um sexuell motivierte Verbrechen handelt?«
    »Zweifel?«
    Sie wagte nicht, nach dem Plastikbecher voll Wasser zu greifen. Um ihre Hände daran zu hindern, unkontrolliert zu zittern, verschränkte sie die Finger ineinander. Sie wollte antworten. Ihre Stimme versagte. Sie schluckte.
    »Zweifel ist gar kein Ausdruck. Ich begreife nicht, wie überhaupt irgend jemand eine solche Behauptung aufstellen kann.«
    Der Moderator hob die Hand und runzelte gereizt die Stirn, als habe sie gegen irgendeine Abmachung verstoßen.
    »Natürlich ist es möglich«, korrigierte sie sich selbst. »Alles ist möglich. Die Kinder können Übergriffen zum Opfer gefallen sein, es kann aber auch um etwas ganz anderes gehen. Ich bin keine Polizistin, ich kenne diese Fälle nur aus den Medien. Trotzdem möchte ich annehmen, daß die Ermittlungen noch nicht einmal ergeben haben, ob die beiden … Entführungen, können wir wohl sagen … überhaupt etwas miteinander zu tun haben. Als ich die Einladung zu diesem Gespräch angenommen habe, dachte ich, daß …«
    Wieder mußte sie schlucken. Ihr Hals schnürte sich zusammen. Ihre rechte Hand zitterte so heftig, daß sie die Finger unter ihren Oberschenkel schob. Sie hätte ablehnen sollen.
    »Aber Sie«, sagte der Moderator munter und richtete seinen Blick auf eine Frau mit schwarzem Kostüm und langen silbergrauen Haaren. »Solveig Grimsrud, Leiterin der neuen Organisation ›Schützt Unsere Kinder‹, Sie neigen klar zu der Auffassung, daß wir es hier mit einem Kinderschänder zu tun haben.«
    »Nach allem, was wir über solche Fälle aus dem Ausland gehört haben, wäre jede andere
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