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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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Geschichte der alten Frau, die einem Urteil als Anlage beigeheftet war, und einigen vergilbten Unterlagen über einen Mann, der Aksel Seier hieß und des Kindsmordes für schuldig befunden worden war.
    »Eine langweilige Arbeit, eigentlich. Aber das erscheint vor allem im Rückblick so. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich damals nicht wohl gefühlt hätte. Im Gegenteil. Ich hatte eine Ausbildung gemacht, ich hatte das Staatsexamen abgelegt, und das war etwas Großartiges. Damals. In meiner Familie jedenfalls.«
    Wieder bleckte sie die Zähne und versuchte, ihren schmalen Mund mit der Zungenspitze anzufeuchten.
    »Woher hast du all die Unterlagen?« fragte Inger Johanne und füllte das Glas mit frischem Wasser aus einer Karaffe auf.
    Die Eiswürfel waren geschmolzen, und das Wasser hatte einen leichten Zwiebelgeruch.
    »Ich meine, Gnadengesuche werden doch wohl nie von sämtlichen Unterlagen begleitet? Von Vernehmungsprotokollen und ähnlichem? Ich begreife nicht ganz, wie du …«
    Alvhild versuchte sich aufzusetzen. Als Inger Johanne sich über sie beugte, nahm sie abermals den Gestank alter Zwiebeln wahr. Der Gestank wuchs, er wurde zu einem Verwesungsgeruch, der ihre Nasenlöcher füllte und Brechreiz in ihr auslöste. Sie tarnte diesen Krampf durch einen Hustenanfall.
    »Ich rieche nach Zwiebeln«, sagte die alte Frau kurz. »Niemand weiß, woher das kommt.«
    »Vielleicht ist das …« Inger Johanne zeigte auf die Karaffe.
    »Ich hatte ein wenig den Eindruck …«
    »Umgekehrt«, hustete die alte Frau. »Das Wasser nimmt meinen Geruch an. Du mußt einfach durchhalten. Ich habe um die Papiere gebeten, ganz einfach.«
    Sie zeigte auf den Ordner, der auf den Boden gefallen war.
    »Wie ich dort geschrieben habe, kann ich nicht vollständig erklären, was mein Interesse geweckt hat. Vielleicht war es die Schlichtheit des Gesuches. Der Mann saß seit acht Jahren im Gefängnis und hatte immer auf seiner Unschuld beharrt. Er hatte schon drei Gnadengesuche eingereicht, die aber immer abgelehnt worden waren. Trotzdem beklagte er sich nicht. Er schützte keine Krankheit vor, wie die meisten anderen das tun. Er verbreitete sich nicht seitenweise über geschwächte Gesundheit, über Kinder, die sich nach ihrem Papa sehnen, und solche Dinge. Sein Gesuch bestand aus einer Zeile. Zwei Sätzen. ›Ich wurde unschuldig verurteilt. Deshalb bitte ich um Begnadigung.‹ Das fand ich faszinierend. Und bat deshalb um alle Papiere. Es ging um …«
    Alvhild versuchte die Hände zu heben.
    »Um fast einen Meter Dokumente. Ich las und las, und meine Überzeugung bestätigte sich immer mehr.«
    Ihre Finger zitterten vor Anstrengung, sie ließ die Arme wieder sinken.
    Inger Johanne beugte sich über den Ordner auf dem Boden und hob ihn hoch. Ihre Arme überzogen sich mit Gänsehaut. Es zog durch einen Spalt im Fenster. Plötzlich bewegte sich der Vorhang, und sie zuckte zusammen. Vom Fernseher her flackertedas Blau der Nachrichten, und plötzlich ärgerte sie sich darüber, daß der Apparat so sinnlos lief.
    »Glaubst du das auch? Daß er unschuldig war? Er ist unschuldig verurteilt worden. Und irgendwer hat versucht, das zu vertuschen.«
    Alvhild Sofienbergs Stimme hatte jetzt einen scharfen Unterton, eine aggressive Schärfe. Inger Johanne blätterte wortlos in den mürben Papieren.
    »Das liegt ja wohl so ziemlich auf der Hand«, sagte sie kaum hörbar.
    »Was hast du gesagt?«
    »Ja. Ich bin ganz deiner Meinung.«
    Die Kranke schien plötzlich keine Kraft mehr zu haben. Sie ließ sich auf ihr Kissen zurücksinken und schloß die Augen. Ihr Gesicht wurde ruhiger, als hätten die Schmerzen sie endlich losgelassen. Nur ihre Nasenflügel zitterten leicht.
    »Das erschreckendste ist vielleicht nicht, daß er unschuldig verurteilt wurde«, sagte Inger Johanne langsam. »Das schlimmste ist wohl, daß er nie … das, was nachher passiert ist, nach seiner Freilassung, daß er nie … ich wüßte gern, ob er noch lebt.«
    »Noch eins«, sagte Alvhild müde und wandte ihr Gesicht zum Fernseher hin; sie drehte mit der am Bettgestell befestigten Fernbedienung den Ton laut. »Noch ein entführtes Kind.«
    Ein kleiner Junge lächelte schüchtern auf einem Schnappschuß. Er hatte braune Locken und drückte ein Feuerwehrauto aus rotem Kunststoff an seine Brust. Hinter ihm, unscharf, war eine herzlich lachende Frau zu sehen.
    »Die Mutter vielleicht. Die Ärmste. Ob es da wohl einen Zusammenhang gibt? Mit dem Mädchen, meine ich. Mit der
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