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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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siebzehn Jahre alt und saß selbst im Gefängnis. Zum Zeitpunkt des Mordes jedoch hatte er sich auf freiem Fuß befunden und wollte gegen Bezahlung für Aksel Seier einen Sack von einem Haus in der Osloer Altstadt zum Hafen getragen haben. In seinen ersten Aussagen behauptete er, Seier sei die ganze Zeit mit ihm zusammen unterwegs gewesen, durch die nächtlichen Straßen, und habe den Sack nicht selbst tragen wollen, »um kein Aufsehen zu erregen«. Dann aber änderte er seine Geschichte. Nicht Seier habe ihn gebeten, den Sack zu tragen, sondern ein anderer Mann, dessen Namen er nicht kannte. Dieser neuen Erklärung zufolge hatte Seier ihn im Hafen erwartet und ohne weitere Worte den Sack übernommen. Der hatte angeblich verdorbene Schweineköpfe und Schweinepfoten enthalten. Mehr wußte Evander Jakobsen nicht, er habe nicht nachgesehen, sagte er. Aber es hatte gestunken, das stand auf jeden Fall fest, und das Gewicht konnte auch mit dem einer Achtjährigen übereinstimmen.
    Diese offenbar unwahre Geschichte hatte im Polizeireporter des Dagbladet Zweifel geweckt. Er bezeichnete Evander Jakobsens Aussage als »haarsträubend unwahrscheinlich«. Unterstützung fand er bei seinem Kollegen vom Morgenbladet, der sich hemmungslos über die widersprüchlichen Aussagen des jungen Knastbruders lustig machte.
    Aber die Skepsis der Presse half wenig.
    Das Gericht sah es als erwiesen an, daß Aksel Seier die achtjährige Hedvig Gåsøy vergewaltigt hatte. Er wurde darüber hinaus für schuldig befunden, sie ermordet zu haben, um das vorangegangene Verbrechen zu vertuschen.
    Das Urteil lautete auf lebenslänglich.
    Inger Johanne Vik legte die Papiere vorsichtig übereinander. Der kleine Stapel bestand aus den Gerichtsprotokollen und vielen Zeitungsartikeln. Es gab keine Polizeiberichte. Keine Vernehmungsprotokolle. Keine Sachverständigengutachten, obwohl aus den Gerichtsprotokollen hervorging, daß mehrere angefertigt worden waren.
    Nach der Urteilsverkündung hatten die Zeitungen den Fall nicht mehr erwähnt.
    Für Inger Johanne Vik war es ein Fall unter vielen anderen. Was ihn besonders machte und ihr den Schlaf raubte, war das Ende der Geschichte. Es war schon halb eins, aber sie spürte überhaupt keine Müdigkeit.
    Sie las alles noch einmal. Zwischen all den Unterlagen hatte die alte Dame ihren beunruhigenden Bericht mit zwei Büroklammern an den Zeitungsausschnitten befestigt.
    Endlich erhob sich Inger Johanne. Draußen wurde es schon hell. In wenigen Stunden mußte sie aufstehen. Das Kind im Bett grunzte im Halbschlaf, als sie es auf die andere Seite schieben wollte. Sollte die Kleine ruhig liegenbleiben. Sie selbst würde ja doch keinen Schlaf finden.

5
    »Das ist eine unglaubliche Geschichte.«
    »Meinst du das wortwörtlich? Daß du mir nicht glaubst?«
    Im Zimmer war erst kürzlich gelüftet worden. Die Kranke wirkte lebhafter. Sie saß aufrecht im Bett, und in einer Ecke lief ein Fernseher, wenn auch ohne Ton. Inger Johanne Vik lächelte und fuhr ganz leicht mit den Fingern über die Bettdecke, die über der Stuhllehne hing.
    »Natürlich glaube ich dir. Warum sollte ich nicht?«
    Alvhild Sofienberg gab keine Antwort. Ihr Blick wanderte von Inger Johanne zu dem stummen Fernseher. Die Bilder flackerten unruhig und sinnlos über den Bildschirm. Die alte Frau hatte blaue Augen. Ihre Wangen waren eingefallen, und ihre Lippen schienen von den starken Schmerzen, die kamen und gingen, verzehrt zu werden. Ihre Haare waren auf dem schmalen Schädel zu einem Flaum geschwunden.
    Vielleicht war sie früher einmal schön gewesen. Es war schwer zu sagen. Inger Johanne musterte die verwüsteten Züge und versuchte sich ihr Gegenüber im Jahre 1965 vorzustellen. Alvhild Sofienberg war damals fünfunddreißig gewesen.
    »Ich bin 1965 geboren«, sagte Inger Johanne plötzlich und legte den Ordner weg. »Am 22.   November. Genau zwei Jahre nach dem Attentat auf Kennedy.«
    »Meine Kinder waren damals schon größer. Und ich hatte gerade das Staatsexamen abgelegt.«
    Die alte Dame lächelte, ein wirkliches Lächeln, ihre Zähne leuchteten grau in der straffen Öffnung zwischen Nase und Kinn. Ihre Konsonanten waren hart, die Vokale verschwunden. Sie streckte die Hand nach einem Glas Wasser aus und trank.
    Alvhild Sofienberg war damals zunächst als Sachbearbeiterin im Justizvollzug eingesetzt worden. Sie sollte die an den König gerichteten Gnadengesuche vorbereiten. Inger Johanne wußte das schon. Es stand in den Unterlagen; in der
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