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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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Kleinen, die …«
    Kim Sande Oksøy sei in der vergangenen Nacht aus seinem Zuhause in Bærum verschwunden, teilte eine metallische Stimme mit. Der Fernseher war alt, das Bild zu blau, der Klang zu dünn. Der Täter war in das Reihenhaus eingebrochen, als die Familie schlief; eine Kamera schwenkte über ein Wohnviertel und fokussierte dann ein Fenster im Erdgeschoß. Die Vorhänge bewegten sich leise, und die Kamera lieferte die Großaufnahme eines aufgebrochenen Fensters und eines grünen Teddybären, der gleich dahinter in einem Regal saß. Ein junger Polizist mit ausweichendem Blick und unbequemer Uniform bat alle, die sachdienliche Hinweise liefern konnten, um Anruf bei einer mit 800 beginnenden Nummer oder um eine Mitteilung an das nächstgelegene Polizeirevier.
    Der Junge war erst fünf Jahre alt. Die neunjährige Emilie Selbu war vor sechs Tagen verschwunden, auf dem Heimweg von der Schule.
    Alvhild Sofienberg schlief. Neben ihrem schmalen Mund zeichnete sich eine kleine Narbe ab, eine Kerbe, die sich vom Mundwinkel schräg zum Ohr hochzog. Sie sah aus, als ob sie lächelte. Als Inger Johanne sich aus dem Zimmer hinunter ins Erdgeschoß schlich, kam eine Krankenschwester auf sie zu. Sie sagte nichts, blieb nur auf der Treppe stehen und drückte sich ans Geländer. Die Schwester roch ebenfalls nach Zwiebeln, nach Zwiebeln und nach Waschmittel. Inger Johanne war speiübel. Sie ging an der anderen vorbei und wußte nicht, ob sie dieses Haus, in dem der Geruch der Sterbenden im ersten Stock sich auf alles und jeden legte, je wieder besuchen würde.

6
    Emilie kam sich größer vor, nachdem der neue Junge gekommen war. Er hatte noch mehr Angst als sie. Als der Mann ihn vor einiger Zeit ins Zimmer schob, hatte er sich vollgekackt. Obwohl er beinahe groß genug war, um in die Schule zu gehen. Am anderen Ende des Zimmers gab es ein Klo und daneben ein Waschbecken. Der Mann hatte ihnen ein Handtuch und ein Stück Seife hingeworfen, nachdem der Junge gekommen war, und Emilie konnte ihn so einigermaßen saubermachen. Aber nirgendwo gab es frische Kleidung. Sie klemmte die schmutzige Unterhose unter das Waschbecken, zwischen Wand und Abflußrohr. Der Junge mußte ohne Unterhose auskommen, und er hörte einfach nicht auf zu weinen.
    Bis jetzt. Jetzt war er endlich eingeschlafen. Im Zimmer stand nur ein Bett. Es war ziemlich schmal und sicher alt. Das Holz war braun und abgenutzt, und irgendwer hatte mit fast verblichenem Filzstift darauf gemalt. Als Emilie das Laken anhob, sah sie, daß die Matratze von langen Haaren bedeckt war, von Frauenhaaren, die am Schaumgummi klebten und sie veranlaßten, das Laken sofort wieder fallen zu lassen. Der Junge lag unter der Decke, mit dem Kopf auf ihrem Schoß. Er hatte braune Locken, und Emilie hätte gern gewußt, ob er überhaupt sprechen konnte. Er hatte seinen Namen genuschelt, als sie danach fragte. Kim. Oder Tim. Sie hatte es nicht richtig verstanden. Er hatte auch nach seiner Mama gerufen, völlig stumm konnte er also nicht sein.
    »Schläft er?«
    Emilie zuckte zusammen. Die Tür war angelehnt. Die Schatten machten es schwer, sein Gesicht zu sehen, aber seine Stimme war deutlich. Sie nickte schwach.
    »Schläft er?«
    Der Mann schien nicht böse oder ärgerlich zu sein. Er brüllte nicht, wie ihr Papa das manchmal tat, wenn er eine Frage wiederholen mußte.
    »Ja.«
    »Schön. Hast du Hunger?«
    Die Tür war aus Eisen. Sie hatte innen keine Klinke. Emilie wußte nicht, wie lange sie schon hier festsaß, in diesem Zimmer mit Klo und Waschbecken in der einen Ecke, Bett in der anderen und sonst gar nichts, außer Mauern und der blanken Tür. Auf jeden Fall schon lange. Sie hatte die Tür sicher schon hundertmal angefaßt. Sie war glatt und eiskalt. Der Mann hatte Angst, sie könnte hinter ihm ins Schloß fallen. Er befestigte sie mit einem Haken an der Wand, wenn er ein seltenes Mal ins Zimmer kam. Normalerweise, wenn er Essen und Trinken brachte, stellte er einfach ein Tablett vor die Türöffnung.
    »Nein.«
    »Schön. Du solltest jetzt auch schlafen. Es ist Nacht.«
    Beim Dröhnen der schweren Eisentür, die ins Schloß fiel, brach sie in Tränen aus. Obwohl der Mann gesagt hatte, es sei Nacht, konnte sie keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht feststellen. Anfangs hatte sie nicht darüber nachgedacht, daß Brote und Milch wohl Frühstückszeit bedeuteten, während Eintopf und Pfannkuchen auf einem gelben Tablett, das der Mann auf den Boden stellte, darauf hindeuteten, daß
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