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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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ich kann das doch nicht …«
    Die alte Dame schlug leicht mit der Handfläche gegen den Bettpfosten.
    »Ich weiß, was Sie können. Was du kannst. Du interessierst dich nicht für Schuld oder Unschuld. Aber ich interessiere mich dafür. In diesem Fall ist das so. Und ich hoffe, bei dir wird das auch der Fall sein. Wenn du das alles gelesen hast. Willst du mir das versprechen? Daß du wiederkommst?«
    Inger Johanne Vik lächelte kurz. Eigentlich war es nur eine unverbindliche Grimasse.

3
    Emilie war auch früher nicht immer auf direktem Wege nach Hause gekommen. Sie war nie lange ausgeblieben, doch einmal, das mußte gleich nach Gretes Tod gewesen sein, hatte er drei Stunden nach ihr suchen müssen. Er hatte überall gesucht. Zuerst ein ärgerlicher Telefonrundruf; er fragte Bekannte, Gretes Schwester, die nur zehn Minuten entfernt wohnte und Emilies Lieblingstante war, die Großeltern, die das Kind seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten. Er wählte immer neue Nummern, während seine Besorgnis in Angst umschlug und seine Finger die richtigen Tasten verfehlten. Dann lief er durch die Nachbarschaft, zog immer weitere Kreise, seine Angst wurde zu Panik, und er fing an zu weinen.
    Sie saß auf einem Baum und schrieb einen Brief an Mama, einen gezeichneten Brief, der als Papierflugzeug zum Himmel hinaufgeschickt werden sollte. Er hob sie behutsam vom Ast und ließ das Flugzeug in einem Bogen von einem steilen Abhang losfliegen. Es glitt im Zickzack hin und her und verschwand über zwei hohen Birken, die sie seither den »Weg zum Paradies« nannten. Danach ließ er sie zwei Wochen lang nicht aus den Augen. Das änderte sich erst nach den Ferien, als der Schulbeginn ihn dazu zwang.
    Diesmal war es anders.
    Er hatte früher nie die Polizei angerufen; Emilies kürzeres oder etwas längeres Ausbleiben mußte er eben hinnehmen. Aber das hier war etwas anderes. Plötzlich wurde er von Panik überwältigt. Er wußte selbst nicht, warum, aber als Emilie nicht zur normalen Zeit nach Hause kam, rannte er in Richtung Schule los, ohne zu bemerken, daß er unterwegs seinen Pantoffel verlor. Auf dem Weg zwischen den beiden Hauptstraßen lagen ihr Ranzen und ein großer Strauß Huflattich; auf der Abkürzung, die sie sich normalerweise nicht allein zu gehen traute.
    Grete hatte Emilie den Ranzen einen Monat vor ihrem Tod gekauft. Emilie hätte ihn niemals einfach irgendwo liegenlassen. Er hob ihn hoch, ein wenig zögerlich, er konnte sich doch irren, der Ranzen konnte einem anderen Kind gehören, einem eher achtlosen Kind vielleicht; er hatte Ähnlichkeit mit Emilies Ranzen, und erst als er mit angehaltenem Atem den Deckel geöffnet und die Initialen auf der Innenseite gesehen hatte, gab es keinen Zweifel mehr. E S. Emilies große, eckige Buchstaben. Es war Emilies Ranzen, und niemals hätte sie ihn einfach so liegenlassen.

4
    Der Mann, um den es in Alvhild Sofienbergs Unterlagen ging, hieß Aksel Seier und war 1935 geboren. Mit fünfzehn Jahren hatte er eine Schreinerlehre angefangen. Seine Papiere sagten wenig über seine Kindheit aus, abgesehen davon, daß er von Trondheim nach Oslo umgezogen war, wo sein Vater nach Kriegsende Arbeit auf der Aker-Werft gefunden hatte. Noch ehe der Junge richtig erwachsen geworden war, hatte er schon drei Vorstrafen kassiert, wenn auch nie für ein schweres Vergehen.
    »Nicht nach heutigen Maßstäben, zumindest.«
    Inger Johanne Vik murmelte vor sich hin und blätterte weiter. Das Papier war brüchig und vergilbt. Die Gerichtsprotokolle berichteten von zwei Kioskeinbrüchen und einem Autodiebstahl, der auf dem Mossevei endete, als dem uralten Ford das Benzin ausging. Mit einundzwanzig wurde Aksel Seier wegen des Verdachts auf Vergewaltigung und Mord verhaftet.
    Das Opfer hieß Hedvig, und zum Zeitpunkt ihres Todes war sie erst acht Jahre alt. Ein Zollbeamter hatte sie in einem Hafenspeicher gefunden, nackt und verstümmelt in einem Sack. Nach einer großangelegten Fahndungsaktion, die etwas mehr als zwei Wochen dauerte, wurde Aksel Seier festgenommen. Indizien gab es zwar nicht, keine Blutspuren, keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren oder andere Spuren, die den mutmaßlichen Täter mit dem Opfer in Verbindung hätten bringen können. Aber Aksel war am Tatort gesehen worden, von zwei zuverlässigen Zeugen, die auch erklären konnten, was sie selbst so spät in der Nacht dort zu suchen gehabt hatten.
    Zuerst stritt der junge Mann alles ab. Später mußte er dann doch zugeben, daß er sich in der
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